Warum junge fähige Leute unsere Gemeinden verlassen

Wie fühlt sich ein aufrichtiger, motivierter junger Christ, der von seiner Gemeinde enttäuscht ist. Markus gibt Einblicke in die Beweggründe junger Menschen, die ihre Gemeinde verlassen.
Warum junge fähige Leute unsere Gemeinden verlassen

Ich bin erst seit einigen Jahren in der überörtlichen Jugendarbeit aktiv. Aber ich mache mittlerweile eine erschreckende Beobachtung: Immer mehr junge Erwachsene oder junge Familien verlassen ihre Heimatgemeinden - und ich meine nicht aus Glaubensprobleme oder wegen Umzug. Ich war selbst als Jugendlicher ebenfalls an diesem Punkt, die Gemeinde verlassen zu wollen. Ich habe es nicht vielen gesagt. Ich glaube, das hätten viele auch nicht verstanden. Und das ist glaube ich das Problem. Wir Visionäre, die Probleme sehen und sich Veränderung wünschen, die andere nicht sehen. Diesen Artikel schreibe ich um zu erklären, warum solche Typen wie ich unsere klassischen (Brüder-)gemeinden verlassen. 


Zu langsam veränderungsbereit

Viele klassische Gemeinden nehmen mehr Rücksicht auf die Etablierten als auf die Visionäre. Jeder soll bei den Veränderungen mitkommen. Das ist das Motto. Meine Erfahrung ist, dass man durch diesen Kurs bewahrende Geschwister gewinnt, dynamische Visionäre verliert man aber. Warum? Weil die Gemeinde über Jahre hinweg nicht entscheidend vorangeht. Es bleibt vieles beim Alten. Das frustriert die ideenreichen Visionäre sehr. Davon gibt es immer nur ein paar in der Gemeinde. Nach einiger Zeit fühlen sie sich fehl am Platz, weil sie das Gefühl haben, dass sie die einzigen sind, die sich größere Veränderungen in der Gemeinde wünschen und nicht so genügsam sind wie andere (auch junge Leute im ähnlichen Alter). So finden jüngere dynamische Leitertypen nur Verständnis und Gehör bei ihresgleichen außerhalb der Gemeinde und der Wunsch wird größer, aus dem Bestehenden auszubrechen, weil sich einfach zu wenig bewegt und sie zu wenig Einsicht und Notwendigkeit für Veränderungen bei den Ältesten/Älteren wahrnehmen. 

Wenn diese unzufriedenen junge Leute schlussendlich ihre Heimatgemeinden verlassen, könnten manche Älteste oder ältere Geschwister der Gemeinde vielleicht denken: Ist doch okay, wenn die “jungen Wilden” ihre geistliche Heimat woanders finden. Meine Befürchtung ist, dass diese jungen leitungsbegabten Menschen dann aber später fehlen, um die Gemeinde in der nächsten Generation zu führen. Wenn junge dynamische Leute also gehen, könnte es eine Frage der Zeit werden, dass Gemeinden stagnieren und irgendwann eingehen. Und die übrig gebliebenen wissen gar nicht so genau warum. Wohlmöglich schieben sie sogar die Schuld auf diejenigen, die gegangen sind, statt darüber nachzudenken, warum sie gegangen sind. Deswegen ist es so wichtig sich damit auseinander zu setzen, was sich junge Leute wünschen, bevor sie die Gemeinde verlassen. Denn dass junge dynamisch denkende Leute weggehen ist eigentlich nur ein Symptom von einer krankenden Gemeinde. Ich setze hier natürlich voraus, dass junge Leute nicht aufgrund von Sünde oder geistlichen Zweifeln die Gemeinde verlassen, sondern gehe in diesem Artikel von geistlichen motivierten begabten jungen Christen aus (die natürlich auch nicht perfekt sind). 

Wir Visionäre wollen natürlich manchmal zu schnell zu viel, aber wenn wir uns nicht ernst genommen fühlen und nicht mitgestalten dürfen (auch langsamer als wir es uns wünschen würden), dann frustriert uns das. 

Was für Veränderungen sich junge innovative Typen wünschen

1. Zeitgemäße Gemeinde, die nah an der Bibel aber auch nah am Puls der Zeit ist. 

    

 Sie nehmen wahr, dass ihre Heimatgemeinde nicht vorankommt. Dass sie in früheren Generationen stecken geblieben sind. Dass die ganze Sprache, die Musik, der Style und die Werte von vorgestern sind. Und sie setzen das in Verbindung zu der sinkenden Relevanz in der Gesellschaft. Niemand interessiert sich für die Gemeinden. Wenige kommen neu hinzu. Es herrscht keine Aufbruchstimmung. Sie selbst bringen ungerne Freunde oder Arbeitskollegen mit, weil sie sich für den Style der Gottesdienste und die Programme eher schämen. Sie sind davon überzeugt, dass Gemeinden, die heute Menschen mit dem Evangelium erreichen wollen, auch zeitgemäße Formen wählen müssen. So wie es Jesus und die Apostel auch taten. Meistens werden sie aber mit dem platten Argument abgebügelt, dass man sich ja nicht der Welt anpassen möchte. So fühlen sie sich nicht verstanden, weil sie Eindruck haben, dass ältere Geschwister den Unterschied zwischen zeitgemäßen Formen bei gleichbleibendem Evangelium (Inhalt) nicht verstehen. Das heißt nicht, dass sie ihre Heimatgemeinde in eine Hipster-Church verwandeln oder ein Modell kopieren möchten, aber sie wünschen sich die Offenheit von zeitgemäßen Gemeinden zu lernen. Sie haben einfach keine Lust mehr auf alte Sprache, Musik und eingefahrene Programme. Sie lieben die Menschen, aber nicht die Traditionen. Traditionelle Gemeinden reflektieren ihre Strukturen und Gewohnheiten nicht am Ziel, sondern verteidigen sie eher gegenüber modernen Ansätzen. 

       

    📖 1. Korinther 9,22b Ich bin allen alles geworden, um unter allen Umständen wenigstens einige zu retten.

    23 Das alles tue ich für das Evangelium, damit ich selbst an seinen Segnungen Anteil bekomme.

    

So wie Paulus bereit war, sich für das Evangelium seiner Kultur anzupassen (ohne sich den Werten und Moralvorstellungen der Welt anzupassen), wünschen sie sich, dass ihre Gemeinde bereit ist, für das Ziel, möglichst viele mit dem Evangelium zu erreichen, möglichst flexibel in der kulturellen Anpassung zu sein. Dass Veränderungen, wenn sie Verbesserungen für den Auftrag und das Wachstum bringen, mutig umgesetzt werden. Sie wollen Teil der Segnungen sein, wenn das Evangelium bei Menschen durchbricht (s. Vers 23). 

    

2. Ehrliche, authentische und liebevolle Atmosphäre

    

Der jungen Generation ist Authentizität total wichtig. Für sie wirken Gottesdienste häufig aufgesetzt, Predigten zu oberflächlich und die Musik zu wenig ehrlich. Sie wünschen sich eine herzliche, lockere, humorvolle und gleichzeitig tiefe persönliche Atmosphäre. Sie haben nichts gegen Bibeltreue. Ganz im Gegenteil. Aber früher waren einfach andere Werte im Gottesdienst wichtig (wie zum Beispiel Ordnung, Ernsthaftigkeit), die für sie zu einer kühlen und unpersönlichen Atmosphäre beitragen. Deswegen fühlen sich junge Erwachsene häufig in moderneren Gemeinden wohler, wo sie neue Werte im Miteinander erleben.

    

3. Eine gute Leitung

    

Junge intelligente Leute können sich damit schlecht arrangieren, wenn ihnen die Leitungsgremien (Vorstände, Brüderkreise, Leitungskreise) intransparente und ineffektiv vorkommen. Sie wünschen sich eine leidenschaftliche, zielorientierte, verständnisvolle, transparente, nahbare, krititfähige, mitnehmende und entscheidungsfreudige Leitung. Sie wünschen sich, dass neue dynamisch denkende Personen mit in den Leitungskreis dürfen. Vielleicht sogar sie selbst. Aber sie können sich schwer in dysfunktionale Teams einbringen. Heute sind Softskills wichtig (in der Bibel übrigens auch). So erwarten sie zum Beispiel eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit in Brüderstunden oder Leitungskreisen, was sie in ihren Gemeinden häufig bemängeln. Das lässt sie manchmal auch an der der Geistlichkeit ihrer Leitung zweifeln, wenn sie den Umgang (hinter den Kulissen) untereinander mitbekommen. 

    

4. Missionarische Ausrichtung

    

Sie wünschen sich, dass ihre Gemeinde nach außen gerichtet ist. Dass neue Menschen dazu kommen. Dass neue Ansätze probiert werden, damit Menschen zum Glauben kommen. Sie wollen miterleben wie neue Gruppen, Ideen und Programme Realität werden. Sie wollen Teil wahrer Jüngerschaft sein und nicht nur immer bei bestehenden Veranstaltungen irgendetwas mitmachen. Sie wünschen sich, dass etwas Großes passiert und die Gemeinde im Ort einen Unterschied macht. Sie wünschen sich Wachstum, statt Stillstand. 

    

5. Reflektierte Theologie

    

Die jungen Leute von heute sind intellektuell viel breiter aufgestellt, als noch ihre Großeltern. Sie hören sich Podcasts von gut gebildeten Theologen an, lesen Bücher von international bekannten Apologeten und Pastoren und folgen christlichen Influencern (auch wenn die nicht immer nur gutes Zeug bringen). Manchmal haben sie den Eindruck die theologisch Weisheit und Qualität ist bei ihren persönlichen Inspirationsquellen viel größer als in ihrer Heimatgemeinde. Deswegen bringen sie Erkenntnisse dann mit in die Gemeinde, wo sie dann nicht selten auf ziemliche Voreingenommenheit gegenüber diesen “Quellen” aus anderen Kontexten stoßen. So werden ihre Fragen und Erkenntnisse manchmal abgebügelt oder wegdiskutiert. Junge Erwachsene wünschen sich aber reflektierte Vorbilder, die selbst gut informiert sind und diskutieren können. Sie wünschen sich gute Predigten, mit stringenten Argumenten und relevantem Inhalt. Alte Gemeinden bilden sich häufig nicht weiter. Ihnen fehlt der Blick über den Tellerrand. Sie sind jahrelang nur in ihrem Saft geblieben, aber das “Stalldenken” (Der “Stall” steht hier für die eigene Denomination) löst sich auf. Junge Leute sind überkonfessionell unterwegs und bringen Ideen und Einflüsse von anderen Kirchen und Kontinenten mit. Damit sind alte Gemeinden überfordert. Warum sollten alte Überzeugungen hinterfragt werden? “Das haben wir doch schon immer so geglaubt! Das war schon immer biblisch.” Althergebrachte Überzeugungen dürfen nicht hinterfragt werden und die Ältesten erweitern ihren Horizont nicht ausreichend (so jedenfalls der Eindruck). Zu Vorträgen oder Schulungen werden nur diejenigen gehört oder eingeladen, die in das alte Muster der eigenen Überzeugungen passen. Wenn sogar die sachliche Auseinandersetzung mit guten biblisch fundierten anderen Ansätzen als Bedrohung empfunden wird, empfinden junge Leute diese Abwehrhaltung als hinterweltlich oder als ängstlichen Stolz. Damit will ich an dieser Stelle klar stellen, dass auf gar kein Fall alle neuen Ansätze, Ideen oder theologische Auslegungen anderer Kirchen (oder der jungen Leute) richtig oder sinnvoll sind. Ich meine nur, dass junge Leute frustriert sind, wenn sie den Eindruck haben, dass sie nicht ernst genommen werden und man nicht bereit ist, sich ernsthaft mit neuen theologischen oder gemeindepraktischen Ansätzen auseinander zu setzen. 

    

6. Ehrliche Aufarbeitung von Konflikten

    

Junge Erwachsene, die Leitertypen sind, kennen die Gemeinde meistens sehr gut. Vielleicht sind sie sogar Kinder/Schwiegerkinder von einem Ältesten/Leiter. Sie wissen genau was wirklich in der Gemeinde abgeht, weil sie in ihre aufgewachsen sind. Sie kennen die Konflikte hinter der Kulissen. Sie nehmen sehr genau wahr, wenn geheuchelt wird oder alte Konflikte einfach unter den Teppich gekehrt werden. Oder wenn es inoffizielle Parteiungen gibt. Familien, die sich nicht gegenseitig privat einladen würden. Dann laufen hochheilige Versammlungsstunden oder Predigten, wo sich aber gleichzeitig nichts an der Liebe und der Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde ernsthaft bessert. Damit kommen sie nicht klar. Schlechtes Gerede im Hintergrund, heilige Gottesdienste im Vordergrund - damit sollte eigentlich niemand klarkommen. Weitermachen trotz ungeklärter Konflikte ist für junge Leute pure Heuchelei und damit nicht authentisch. Und alles, was nicht authentisch ist, lehnen junge Leute ab (s. oben). 

    

7. Qualität

    

In unserer Kultur läuft alles nur mit Profession. Überall braucht man eine Legitimation, um eine Tätigkeit auszuüben. Aus der Denomination aus der ich komme, wird aber eigentlich alles ehrenamtlich gemacht. Das Engagement und die Motivation ist auch wirklich lobenswert. Das Ergebnis mancher Darbietungen wirkt aber auf die jungen Leute häufig unprofessionell oder mit schlechter Qualität, weil sie mittlerweile aus dem Internet und von Jugendveranstaltungen besseres gewöhnt sind. Sie hören andere Pastoren oder Prediger, die theologische Ausbildungen haben und sehr anschaulich, lebendig, praktisch und durchdacht vorbereitet predigen können. Sie erleben, dass man Lobpreis und Technik viel besser machen könnte, wenn Leute geschult wären. Sie mögen keine peinlich ablaufenden Gemeindezusammenkünfte. Dann schämen sie sich fremd. Sie wollen qualitative aber gleichzeitig authentische Gottesdienste. Das heißt nicht, dass alles groß, aufregend oder hipster sein muss. Es heißt auch nicht, dass junge Leute sich Pastoren oder nur professionelle Mitarbeiter wünschen. Sie wünschen sich einfach nur, dass es besser und einladender wird. 

    

8. Vision und Ziele

    

Wenn junge Leute den Eindruck haben, dass die Gemeinde keine Ziele hat, keine Leidenschaft oder kein Wunsch für die Zukunft, sind sie enttäuscht. Ihnen fehlt eine Vision von der Leitung. Wo wollen wir überhaupt hin? Was sind unsere Ziele und Werte? Wenn sich immer nur negativ von den anderen Bewegungen und modernen Freikirchen abgegrenzt wird, sind sie ernüchtert. Die Gemeinde hat kein Profil. Sie hat keine Motivation für die Zukunft. Sie plettschert einfach nur so vor sich hin. Junge Leiter wünschen sich Aufbruch statt Abgrenzung. Sie wünschen sich, dass Gemeinde vom Ziel und nicht von der Tradition her gestaltet wird. 

  

Warum kleine Zugeständnisse nicht ausreichen

Vielleicht waren diese 8 Punkte für dich jetzt ziemlich harter Tobback. Wenn du nicht so der Typ für Veränderungen bist, aber eventuell Verantwortung in der Gemeinde trägst, sind die Gedanken jetzt ziemlich herausfordernd für dich. Vielleicht wünscht du dir, dass junge Leute bleiben. Bitte mache nicht den Fehler, einfach nur ein paar Zugeständnisse für kleine Veränderungen zu machen. Wie ich in den Punkten deutlich machen wollte, geht es eher um große Veränderungen, statt um ein neues Lied oder ein neues Instrument oder ein neues technisches Gerät im Gottesdienst. Das ändert nicht viel. Klar, Veränderungen müssen kleinschrittig durchgeführt werden, aber sie müssen groß gedacht werden. Es geht um die Leitung, Ausrichtung und den Charakter von Gemeinde. Meine Erfahrung ist: Junge Leitertypen sind eine lange Zeit lang bereit, demütig und leidenschaftlich in ihre Heimatgemeinde zu investieren, aber irgendwann staut sich Frust an. Wenn sie merken, dass sie wenig erreichen und verändern können, wächst der Wunsch woanders hinzugehen oder etwas Neues anzufangen. Wenn sie aber den Eindruck haben, dass sie selbst wirklich etwas bewegen können und Handlungsspielräume in Leitungsaufgaben bekommen, kann sich das Blatt wenden. Ich selbst habe das bei mir so erlebt. Ich wollte als Jugendlicher die Gemeinde verlassen, aber wir als Jugend durften an unserer Gemeinde mitgestalten. Alles änderte sich langsam, aber es ging voran. Natürlich nicht ohne Konflikte. Manche alte Leute haben uns verlassen. Auch als ich mit 24 Jahren Ältester wurde, kamen einige damit nicht klar. Seither haben weitere etablierte Geschwister die Gemeinde verlassen, aber es sind viel mehr neue junge Erwachsene, Familie und Neubekehrte dazugekommen. Wir wachsen und haben mittlerweile ein neues Gemeindehaus gebaut. Wir haben uns nicht gespalten. Aber bei großen Veränderungen in ziemlich traditionellen Gemeinden kann man nicht immer alle mitnehmen. Die Frage für Älteste in traditionellen Gemeinden ist hart: Was bin ich bereit, um junge Menschen in Gemeinde zu halten und sie zu “ihrer” Gemeinde werden zu lassen? Bin ich bereit junge Leute mit leiten und entscheiden zu lassen, auch große Veränderungen langfristig zuzulassen, auch wenn ich dadurch riskiere, ein paar ältere Geschwister zu verlieren oder versuche ich immer nur sehr kleinschrittig etwas zuzulassen und riskiere damit, meine dynamischen jungen Erwachsenen zu verlieren? Sie sind die Leiter der nächsten Generation!


P.s.: Wenn du merkst, dass du dich als junger Mensch angesprochen fühlst bei meinem Artikel, möchte ich dir sagen, dass ich dich damit nicht motivieren möchte, aus deiner Gemeinde auszusteigen. Ich bin es auch nicht. Es kann sein, dass du irgendwann die Reißleine ziehen musst, aber vielleicht trägt dieser Artikel ja ein bisschen zur Einsicht bei den anderen bei und du hast die Chance mehr mitgestalten zu dürfen. Dann habe Geduld (eine Frucht des Geistes) und gib nicht zu schnell auf. Gerade wenn du merkst, dass Gott dich dorthin gestellt hast, wo du jetzt bist. Das ganze Gemeindehopping ist nicht gesund.