Unsere Gesellschaft auf der Suche nach Identität und Zugehörigkeit
Dieser Artikel erklärt dir, wie die heutige Gesellschaft funktioniert und denkt - und wie der christliche Glaube Antwort auf die Sehnsüchte unserer Zeit sein kann.
In der Vorgeschichte zu den Narnia-Chroniken stolpern die neugierigen Nachbarskinder Digory und Polly in den Wald zwischen den Welten – den Wald, der sie letztlich nach Narnia führen wird. Es ist ein sonderbarer Ort, ein Ort, den sie nicht kennen und an dem sie noch nie waren – und doch, so beschreibt es der junge Digory, ist es ein Ort, von dem er denkt, „ich war schon immer hier“. Ihre kleinen Kinderseelen erkennen diesen Ort, erkennen an, dass sie tief in sich immer wussten, dass er existieren musste.
Ähnlich beschreibt die Autorin Rebecca McLaughlin die Bekehrung ihrer atheistischen Freundin Sarah. Sarah fand zu Jesus, weil ihr die Implikationen ihres Atheismus nicht mehr passten: Weil ihr eine Grundlage für moralisches Handeln fehlte, Argumente für eine universelle Menschenwürde, ein Mandat zu sozialer Gerechtigkeit. Sie litt, so beschreibt es McLaughlin rückblickend, an „einer Art moralischem Heimweh nach einem Ort, den sie noch nicht kannte“.
Seit der Vertreibung aus dem Paradies in Genesis 3 kennen wir Heimweh. Wir sind entfremdet – von dem, der uns Heimat geben wollte. Wir sind einsam – weil wir nicht mehr mit dem verbunden sind, der uns wollte. Die Geschichte der Stammväter ist die Geschichte von Menschen im Exil, die sich als Gäste und Fremde nach mehr sehnten, „nach etwas Besserem, nach einer Heimat im Himmel“ (Hebr. 11,16). Die Geschichte unserer Gesellschaft ist die Geschichte von Menschen im Exil, die sich nach Heimat, nach diesem Besseren sehnen, und ahnen, dass es diesen Ort, diesen Wald zwischen den Welten, wirklich gibt – ihn aber (noch) nicht kennen. Die Sehnsucht nach dieser Heimat ist möglicherweise eine der größten offenen Türen für das Evangelium in der heutigen Zeit. Und die Fähigkeit, den Weg zu dieser Heimat zu weisen, das größte Lernfeld für Christen heute. Mehr denn je sollten wir uns fragen: Wie führen wir Digory und Polly im 21. Jahrhundert in den Wald zwischen den Welten? Und wie zeigen wir den Sarahs der Postmoderne den Ort, nach dem sie Heimweh haben?
Im Kampf nach Identität
Die Pollys, Digorys und Sarahs der heutigen Zeit leben in einer Spannung. Sie leben in einer Zeit, in der sowohl Gruppenzugehörigkeit als auch Identitätsbildung anders funktioniert als noch vor einigen Jahren. Was früher ganz klar schien und vor allem von äußeren Faktoren beeinflusst wurde, ist heute fluide, muss sich hart erkämpft und permanent gesichert werden. Hätten wir Polly gefragt, wer sie ist und wohin sie gehört, hätte sie uns fröhlich erklärt: Ich bin ein Mädchen und ich bin Engländerin. Heute lassen wir uns nicht mehr durch äußere Faktoren festlegen: Die DNA bestimmt nicht mehr zwangsläufig das Geschlecht, deine Herkunft definiert nicht deine Zugehörigkeit. Was genau anders ist, lässt sich in zwei zentralen Bewegungen zusammenfassen:
1. Wir wollen jemand sein – der expressive Individualismus
Kurz gesagt lautet die Maxime der heutigen Zeit: Du darfst sein, was du bist!, genauer gesagt: was du fühlst. Viel ist über die Generation Alpha noch nicht bekannt (also die Generation von Digorys und Pollys, die jetzt unsere Jugendgruppen schwemmt), aber wir wissen bereits, dass sie hyperindividualistisch ist. Für heutige Jugendliche ist es normal, dass eine digitale Assistenz namens Siri oder Alexa auf sie zugeschnitten bei der Alltagsbewältigung hilft. Es ist normal, mit Hilfe von ChatGPT individualisierte Antworten auf individuelle Probleme zu bekommen. Dieses neue „Normal“ ist eine Folge des technischen Fortschritts – aber noch viel mehr Produkt der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft seit der Kulturrevolution in den 1960er Jahren. Die Sechziger protestieren gegen ein System, das „Kreativität, Individualität und Fantasie erstickte“, so der Philosoph Charles Taylor. Und wie so oft schlug Unterdrückung ins Gegenteil um: Konsum, Kleidungsstil und Musikwelt suchten nach neuen Ausdrucksformen, versuchten durch Nonkonformismus die Individualität des Einzelnen hervorzuheben. Jeder hat heutzutage das Recht – und unausgesprochen auch die Pflicht – seinen eigenen Stil zu finden und authentisch auszuleben; „expressiver Individualismus“ nennt man das, also das Nach-Außen-Kehren innerer Werte, etwa durch politische Statements auf T-Shirts, christlichen Merch oder Regenbogenflaggen im Insta-Profil.
2. Wir wollen dazugehören – flüssige Gemeinschaften
So individualistisch wir auch sind, tragen wir trotzdem den Wunsch in uns, dazuzugehören. Doch auch unsere Zugehörigkeit definieren nicht mehr die Umstände, sondern unsere Interessen und Neigungen: Früher gingen Eltern zur lokalen Krabbelgruppe – und wurden konfrontiert mit unterschiedlichsten Erziehungsstilen. Kinder freundeten sich mit ihren Nachbarn an – man arrangierte sich und fang gemeinsame Hobbys. Heute kommen wir uns komplett aussuchen, zu welcher Gemeinschaft („Community“) wir gehören wollen. Gerade das Internet ermöglicht diese „flüssigen Gemeinschaften“ (Carl Trueman), die im Kern Interessensgemeinschaften und Gleichdenkender sind. Und tatsächlich: Familie ist heute, wen du dir aussuchst, und für jedes politische Lager, jede religiöse Teil-Überzeugung gibt es eine Bubble auf Social Media. Teil einer Community wird, wer sich mit den Werten identifiziert, gecancelt wird, wer die Daseinsberechtigung der Gruppe in Frage stellt. Gerade in Zeiten, in denen Sicherheiten wanken und Menschen sich nach Orientierung und Zugehörigkeit sehnen, wird Tribalismus, also der Rückzug in Gruppen mit gleicher Meinung, extrem attraktiv.
Was bedeutet das?
Der neue Identitäts- und Zugehörigkeitsbegriff klingt zunächst nach ultimativer Freiheit: Das Individuum muss sich nicht in ein restriktives System pressen, Empfundenes darf sein und wird gehört. Niemand bleibt mit seiner Meinung allein, jeder findet eine Gruppe, die ihn aufnimmt und bestätigt. Doch bei genauerem Hinsehen erahnen wir Grenzen dieser Freiheit. Der Gesellschaftstheoretiker Carl Trueman erklärt, das Zusammenspiel zwischen dem neuen Identitätsverständnis und der neuen Art, wie Zugehörigkeit und Gemeinschaft definiert wird, sei „eine Situation ohne erkennbare Parallele in der Geschichte“, bei der es „keinen festen Boden gibt, auf den man seine Identität aufbauen könnte“. Denn natürlich setzt das neue Denken auch unter Druck: Du bist nur wer, wenn du etwas darstellst, dich ausdrückst. Viele, vor allem junge Menschen, leiden darunter, sich konstant selbst und neu erfinden zu müssen. Sie finden flüchtige Sicherheit in flüssigen Gemeinschaften, müssen aber auch konstant sicherstellen, dem Narrativ dieser Gemeinschaften treu zu bleiben, um sich nicht selbst plötzlich auf der Seite der „Anderen“ wiederzufinden, denen die geballte Ablehnung der Gruppe entgegenschlägt. Echte Authentizität, so erwünscht und gefordert sie auch ist, ist selten – weil man sich verstecken muss hinter Make-Up, hinter geschönten Fotos, hinter Erfolgen - sonst bleibt das schale Gefühl, nicht genug zu sein: Nicht genug geleistet zu haben, nicht performt zu haben.
Die junge Influencerin Valentina Vapaux zieht in ihrem Buch Generation Z genau dieses Fazit:
„Wir sind die traurige Generation mit den glücklichen Bildern, die großen Träumer mit den psychischen Problemen. Wir sind die Individualisten, die alle gleich aussehen. Wir sind die gut gebildete und doch oft so naive Generation.“
Und dann hält sie fest: „Wir sind so einsam wie noch nie.“ Weil wir heute alles sein können, gehören wir nirgends ganz dazu. Wir suchen Heimat und Zugehörigkeit – und finden nur Ansätze davon, tief durchdrungen von Kulturkampf und Abschottung. Diese Spannung macht Menschen das innere Heimweh schmerzlich bewusst, das Rebeccas Freundin Sarah zu Jesus trieb. Ja, die Menschen sehnen sich nach Orten, an denen sie wirklich sicher und gewollt sind. Und anders als viele Generationen vor ihnen sind sie sich dieser Sehnsucht wirklich bewusst.
Heimat für Heimatlose
Was würde Valentina sagen, wenn Digory sie mit nach Narnia nehmen würde? Sie würde einen Ort entdecken, von dem ihre Seele schon die ganze Zeit ahnte, dass es ihn gibt. Valentina und ihre sich selbst verwirklichenden Gen-Z-Genossen, die lustigen Boomer mit ihrem längst veralteten Hierarchie-Denken, die einsamen Singles in den Hochhäusern der Großstädte, die nach Bedeutung suchenden Klima-Aktivisten, die um ihre Existenz kämpfenden Alleinerziehenden – ihnen allen gilt die Einladung des Evangeliums: Die Einladung zu einem besseren Konzept von Identität und Zugehörigkeit. Die Einladung nach Hause.
Der christliche Glaube bietet eine andere Identität – nicht von innen generiert oder von außen bestätigt, sondern von oben geschenkt. Der Einzelne hat unendlich viel Wert – sieht Gott nicht sogar den einzelnen Sperling!? – aber dieser Wert hängt nicht von unserer Leistung ab, schwankt nicht mit der Qualität unserer Selbstinszenierung. Nein, im christlichen Glauben kommt unser Wert von Gott, der uns als Söhnen und Töchtern eine Identität verleiht, die uns nicht genommen werden kann. Und mit dieser neuen Identität geht eine neue Zugehörigkeit einher: Wir sind eingeladen in Gottes Familie, eine Familie, die alle kulturellen, sozialen und biologischen Grenzen überwindet (vgl. Gal 3,28). Eine Familie, in der Echt-Sein möglich ist und Inneres nach Außen getragen werden kann – nicht, weil die Gesellschaft das eben so macht, sondern weil Gemeinden das Geheimnis echter Authentizität kennen: Gnade. Wo Gnade regiert, ist Vergebung möglich. Und wo Vergebung da ist, können wir Versagen zugeben.
Die Digorys unserer Zeit heißen nicht Digory, sondern Mia, Matteo und Sofia. Ihnen gilt Gottes Einladung: „Komm her zu mir, beladene Mia. Ich will dir Ruhe geben. Deine Schuld, deine Scham, das, was nicht in Ordnung ist, kannst du bei mir ablegen“ (vgl. Mt 11,28). „Du bist kein Sklave der Meinung anderer mehr, Matteo, sondern Sohn und damit auch Erbe. Ich selbst habe dich dazu bestimmt“ (vgl. Gal 4,7). Und „Sofia, deine Seele wird Heimat finden. Schließlich hat Gott im Himmel tatsächlich eine Stadt für uns erbaut“ (vgl. Hebr 11,16).