Sind Jugendliche wirklich gestresst?

Bei all der Arbeit die man als Mitarbeiter oder Leiter tut, fragt man sich manchmal, warum die anderen "so wenig" tun. Sind sie wirklich so gestresst, wie sie sagen? Wie gehen wir damit um?
Sind Jugendliche wirklich gestresst?

Sonntagabend: Meine Frau und ich fallen müde auf´s Sofa. Der Tag? Schön, aber endlich vorbei! Neben uns sitzt Luca, der zurzeit bei uns wohnt. Ihm haben wir die ganze Woche bei der Planung seiner Geburtstagsfeier geholfen. Plötzlich sagte er: „Boa, die Woche war echt stressig“. Ich frage überrascht zurück: „Echt? Du warst doch Donnerstag krankgeschrieben, Freitag hattest du frei – etliche Stunden hast du die Woche gezockt – und DUUU fandest es stressig?“ – Reagierst du auch manchmal so auf deine Jugendlichen?


Ich habe mehr Stress als die Jugendlichen

Als relativ junger Gemeindeleiter (32), Vater von drei kleinen Kindern, Vollzeitler, und, und, und (man bin ich ein Held!?)…hatte ich dem Moment kein Verständnis für Luca. Die Kinder anziehen, zur Gemeinde heizen, den Kofferraum ausladen, Leute begrüßen, Kinder zum Kindergeburtstag fahren, bei Lucas Geburtstagsparty grillen, organisieren, reden… Mein Tag war voll! Und ich habe in der vergangenen Woche mehr gearbeitet. Kurzgesagt: Ich könnte von Stress reden – aber Luca doch nicht, oder?!

Manchmal erwarten wir, dass unsere Jugendlichen belastbarer sind. Wir schaffen es nicht, ihre persönlichen Grenzen zu respektieren.


Wir brauchen Gnade

Die mentalen Ressourcen jüngerer Leute sind in der Regel geringer. Denn sie wachsen erst an ihren Herausforderungen. Im Bild gesprochen: Der Stressmuskel wird bei ihnen früher gereizt als bei uns, weil er noch nicht so stark ist. Sie stöhnen früher über Belastung. Im optimalen Fall können sie aber nach dem „Stressmuskelkater“ beim nächsten Mal mehr ertragen. In diesem Prozess müssen wir sie motivieren, statt sie zu verachten – sonst verursachen wir Minderwertigkeitsgefühle und machen uns zum Maßstab. Aber wer sagt ab wann man über Stress jammern darf?

Übrigens jammere ich viel früher als meine Kollegen. Und sie sind gnädig mit meinem Jammern. Das sollten wir auch bei unseren Jugendlichen sein.


Jammern wir ihnen zu viel vor?

Vielleicht jammern wir der nächsten Generation aber auch zu viel vor. Sie hören uns stöhnen, dass wir zu nichts kommen, dass wir gerne dies und jenes – auf jeden Fall –mehr machen möchten. Dabei nutzen wir unsere Zeit vielleicht gar nicht immer sinnvoll. Wann hören sie von uns, dass wir in Jesus dankbar und zufrieden sind? Selten, oder?! Leben wir der jüngeren Generation vor, wie sie bei Gott in der Stille auftanken können und Ausgleich zu ihrem Stress finden? Meistens nicht, oder? Dann brauchen wir uns nicht wundern. Sie wollen nicht so enden wie wir und reden lieber schon mal früher vom Stress.


Nimm deine Jugendlichen ernst

Wenn ich junge Leute für ein Projekt Anfrage, das mir am Herzen liegt, reagiere ich verärgert, wenn sie absagen. Ich denke: „Habt ihr wirklich so viel, dass ihr nicht ein paar Stunden investieren könnt?“ „Wie setzt ihr eure Prioritäten, bitte schön?“ „Lernt ihr wirklich den ganzen Samstag, oder könntet ihr euch die Zeit nicht besser einteilen und noch ein bisschen mitarbeiten?“ Ich denke von meinem Standpunkt aus, statt sie verstehen zu wollen. Besser wäre es die Person ehrlich zu fragen, warum sie absagt, statt negative Gedanken brodeln zu lassen.


Jede Person und Situation sind anders

Mittlerweile versuche ich die Situationen und Personen besser einzuschätzen, bevor ich sie um Hilfe bitte. Ich lerne zu respektieren, dass verschiedene Personen unterschiedliche Komfortzonen haben. Manche Typen sind einfach entspannter und können sich leichter bei neuen Aufgaben engagieren – für andere bedeutet das nur zusätzlichen Stress. Diejenigen muss man erstmal mit weniger Last beladen.

Kurzgesagt: Lass dir die persönliche Situation deines Mitarbeiters erklären. Lerne seine Persönlichkeitsstruktur kennen. Du bekommst ein größeres Verständnis für seine Ressourcen und kannst ihn passend herausfordern.


Tipps um Jugendliche für die Mitarbeit zu gewinnen

1. Vision vermitteln: Jugendliche feiern starke Visionen und sind bereit für gute Ideen zu kämpfen – auch wenn sie danach kaputt sind.

2. Verbindlichkeit einfordern: Wir bitten unsere Jugendliche nur zuzusagen, wenn sie wirklich am Start sind. Sie sollen lernen sich richtig einzuschätzen. Wir verdeutlichen ihnen wie es uns geht, wenn sie kurzfristig wegen „Stress“ absagen. Dann sollen sie lieber von Anfang an „Nein“ sagen.

3. Freisetzen: Lobe und schätze ihren Aufgabenbereich. Erkläre ihnen welchen persönlichen und geistlichen Mehrwert ihre Arbeit bietet. Gib ihnen Gestaltungsfreiheit und motiviere sie ihre Arbeit und ihr Team auszubauen. Lass sie aber gleichzeitig mit der Aufgabe nicht allein. Nimm sie ernst. Begleite sie.

4. Vorleben: Lebe deinen Jugendlichen vor, wie sie Überbeanspruchungen vorbeugen und negativen Stress vermeiden können. Wir als Leiter sollten einige von den wichtigsten Strategien des Zeitmanagements beherrschen: rechtzeitig planen mit genügend freien Zeitfenstern für Partner, Sport und Zeit mit Gott. To-do`s aufschreiben, statt sie im Kopf kreisen lassen. Gabenorientiert leben und „Nein-Sagen“ können etc.


Stress gehört dazu

Im Mai 2019 sind wir als Gemeinde in unseren Neubau gezogen, wo wir als kleine Herde größtenteils verkopfter Akademiker in Eigenleistungen und Rekordzeit unser Gemeindehaus fertiggestellt haben. Im Herbst starteten wir mehrere Projekte gleichzeitig und manche Mitarbeiter fühlten sich anschließend geschlaucht. Ein frisch verheiratetes Paar erzählte uns, von einem großen Streit in dieser stressigen Zeit. Also bloß Stress verhindern? Ich sagte ihnen: Als Christen werden wir immer wieder stressige Zeiten erleben – das ging auch den Menschen in der Bibel so. Wir wollen bewusst in das Reich Gottes investieren – neben Beruf, Familie, …. Die Mehrbelastung bringt auch Erschöpfung mit sich. Aber es darf kein Dauerstress werden. Dauerreizung ohne Erholung ermüdet den mentalen Muskel. Doch kleine Risse durch Beanspruchung lassen den mentalen Muskeln wachsen.

Wir sollten nicht versuchen unseren Jugendlichen Stress zu ersparen. Stattdessen können wir ihnen helfen zu lernen Stress gut abzubauen. Und daran zu reifen.

Was nicht passieren darf ist Dauerreizung. Der Muskel wächst in der Erholung – das weiß jeder Sportler. Wir müssen unseren Jugendlichen vorleben, wie man sich mental erholt. Ich glaube, dass vielen Jugendlichen durch die Dauerreizung der Medien die echte Entspannung der mentalen Muskulatur fehlt. Sie sind müde und gestresst von vielen Eindrücken. Netflix, Instagram, TikTok & Co sind Fake-Erholungszeiten. Echter Ausgleich für die mentale Muskulatur ist Sport, die Natur, die Begegnung mit Gott und die Ruhe. Sehen unsere Jugendlichen, wie wir uns erholen? Reden wir mit ihnen darüber? Wenn sie erleben, wie wir im Dienst entspannt Gas geben, haben sie auch Bock mitzuarbeiten!