Gnade, die verändert 

Oft erscheint es uns wenig intuitiv und doch ist es wahr: Es ist das Evangelium der Gnade Gottes, das unseren Charakter (unser Fühlen, Denken und Handeln) …
Gnade, die verändert 

Oft erscheint es uns wenig intuitiv und doch ist es wahr: Es ist das Evangelium der Gnade Gottes, das unseren Charakter (unser Fühlen, Denken und Handeln) tiefgreifend verändert.  

Es ist Gottes Güte, die uns zur Umkehr führt (Römer 2,4) und Veränderungsprozesse in unserem Leben anstößt. Paulus benennt in Titus 2,11-12 das göttliche Gnadenhandeln in Christus als das ultimative Mittel, um uns Jesus mehr und mehr ähnlich zu machen: „Denn in Christus ist Gottes Gnade sichtbar geworden – die Gnade, die allen Menschen Rettung bringt. Sie erzieht uns dazu, uns von aller Gottlosigkeit und von den Begierden dieser Welt abzuwenden. Stattdessen wollen wir solange wir hier auf der Erde sind, verantwortungsbewusst handeln, uns nach Gottes Willen richten und so leben, dass Gott geehrt wird.“ Wer in dieser Weise „erzogen“ werden will, braucht mehr (nicht weniger!) Gnade. Titus sollte begreifen, dass nur das Evangelium der Gnade Gottes die Kraft hat, die ihm anvertrauten (und sogar sprichwörtlich „unmoralischen“!) Bewohner Kretas zu einem gottgefälligen, heiligen Leben zu befähigen. Dasselbe „Hilfsmittel“ gibt Petrus seinen Leuten an die Hand, bevor er sie auffordert, „ein durch und durch geheiligtes Leben [zu] führen“. Er fokussiert sie neu auf das Evangelium von Jesus und schreibt: „Richtet euch daher ganz auf Jesus Christus aus (...) und setzt eure Hoffnung völlig auf die Gnade“ (1. Petrus 1,13-15).  

Keine Frage: Biblische Gebote sind unersetzliche Hinweise auf den Willen Gottes, dem wir gehorsam sein sollten. Allerdings finden geistliche Veränderungsprozesse nicht in erster Linie dort statt, wo Gläubige sich wiederholt mit der Härte des göttlichen Gesetzes (also vor allem mit Regeln und Forderungen) konfrontiert sehen. Das führt meist bestenfalls zu kurzfristigen, äußerlich-oberflächlichen Verhaltensänderungen und einer freudlosen Gesetzlichkeit, nicht aber zu einer anhaltenden Erneuerung des Herzens und freudigen Jesus-Nachfolge (vgl. dazu Matthäus 23 u.a.). Die Qualität unseres Lebens mit Christus steigt dort, wo wir dankbar-liebevoll auf Gottes Gnade reagieren.  

 

Erfahrungen mit der Gnade 

Genau diese biblische Dynamik beschreibt der Ex-Sklavenhändler John Newton in seinem berühmten Lied „Amazing Grace“ (gedichtet 1772): „Twas grace that taught my heart to fear and grace my fears relieved“. Wer wie Newton immer mehr lernen will, Gott in Ehrfurcht zu begegnen und nach Gottes Willen zu leben, der braucht eine tiefe Begegnung mit dem Evangelium der Gnade. 

Vor einigen Jahren begann ich selbst, dieses Veränderungspotential des Evangeliums auf einer tiefen Ebene zu begreifen. Damals saß ein junger Mann in meinem Büro. Aufgewachsen in einer christlichen Gemeinde erzählte er mir sichtlich bewegt seine Geschichte. Sein Vater war schwerster Alkoholiker. Er hatte die Familie im Stich gelassen, als der junge Mann noch ein kleines Kind gewesen war. Inzwischen – vom jahrzehntelangen Alkoholkonsum stark gezeichnet – war nicht abzusehen, wie lange der Vater noch leben würde. Der junge Mann bekannte mir in aller Offenheit: „All die Jahre habe ich meinen Vater zwar nicht gehasst, aber ich habe ihn voller Selbstgerechtigkeit verachtet und mich für ihn geschämt.“ Nur mühsam konnte er die Tränen unterdrücken. Seine Worte haben sich mir tief eingebrannt: „Die ganze Zeit wusste ich, dass Gott möchte, dass ich meinen Nächsten, ja sogar meine Feinde, liebe – also auch meinen Vater. Die Maßstäbe Gottes waren mir bekannt – aber ich konnte sie nicht leben.“ Erst in den zurückliegenden Monaten hatte er angefangen, das Evangelium tiefer zu verstehen und die Gnade Gottes wirklich zu erfassen. Und das veränderte sein Herz. Schließlich sagte er mit gebrochener Stimme: „Ich bin vor Gott zusammengebrochen und habe zu ihm gesagt: `Wenn du, Herr, angesichts meiner Sünde so gnädig zu mir bist, wie kann ich dann nicht gnädig mit meinem Vater umgehen? Wenn du mir vergibst, wie kann ich ihm dann nicht vergeben?` Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir noch haben – aber ich will meinem Vater von jetzt an ein liebevoller Sohn sein.“ Ich wurde Zeuge der verändernden Kraft der Gnade. Es war einer der prägendsten Momente meines Dienstes als Pastor.   

Wer die Tiefe seiner eigenen Sündhaftigkeit erkennt (im Sinne von: „Ich bin so sündhaft und schlecht, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.“) und auf diesem dunklen Hintergrund den unerschöpflichen Reichtum der Gnade immer wieder persönlich erstrahlen sieht, der kann kaum unverändert bleiben (vgl. Römer 12,1-2; 2. Korinther 3,18; 5,14-15 u.v.a.). Solch existentielle Gnadenerfahrung (im Sinne von: „Und ich bin [in Christus] angenommener und geliebter, als ich je zu hoffen gewagt hätte.“) führt zu einem veränderten Leben. Je mehr ich erfasst bin von diesem Evangelium, desto mehr wird mein Herz (und damit mein Charakter) im Sinne Gottes geformt.  

Genau diese Erfahrung hat auch der berühmte Prediger Charles Spurgeon gemacht:  

„Als ich Gott noch als Tyrannen betrachtete, hielt ich meine Sünde für eine Bagatelle; aber als ich ihn als Vater kennenlernte, trauerte ich darüber, dass ich mich überhaupt jemals gegen ihn aufgelehnt hatte. Wenn ich das Gefühl hatte, Gott [und sein Gesetz] seien hart, da fand ich es einfach zu sündigen; aber wenn ich vor Augen hatte, wie freundlich, gütig und überfließend barmherzig Gott ist, da schlug ich mir an die Brust und dachte: ,Wie konnte ich nur jemals gegen den rebellieren, der mich so sehr geliebt hat und mein Bestes will?‘“

Je stärker du von dieser überfließend barmherzigen Gnade Gottes in Jesus Christus ergriffen und begeistert wirst, desto umfassender wird die Veränderung deines Herzens sein. Denn das Evangelium verändert alles.