Das Evangelium zwischen Gesetzlichkeit & Gesetzlosigkeit

Wer sich auf das Evangelium als umfassendes Zentrum des Glaubens (neu) einlässt, bei dem beginnt ein „Umparken im Kopf“. Denn das Evangelium umfasst nicht, …
Das Evangelium zwischen Gesetzlichkeit & Gesetzlosigkeit

Wer sich auf das Evangelium als umfassendes Zentrum des Glaubens (neu) einlässt, bei dem beginnt ein „Umparken im Kopf“. Denn das Evangelium umfasst nicht, wie viele meinen, nur das kleine Glaubens-Einmaleins, das sich Nichtchristen aneignen sollten, um gerettet zu werden. Es ist mehr als nur die Tür hinein ins christliche Leben, in dem sich der einzelne Christ dann redlich bemühen muss, den göttlichen Maßstäben gerecht zu werden. 

Das Evangelium ist nicht nur das ABC des christlichen Glaubens, das wir mit zunehmender Reife hinter uns lassen, um uns tiefgründigeren Dingen zuzuwenden. Ganz im Gegenteil: Die Kraft und Schönheit des Evangeliums liegt gerade darin, dass es jeden Bereich christlicher Existenz von Grund auf verändert. Eben nicht ABC, sondern A bis Z des Glaubens.  

 

Die Feinde des Evangeliums 

Am Anfang steht: Das Evangelium ist die gute Nachricht, nicht einfach nur ein guter Rat. Denn das Evangelium stellt nicht in erster Linie heraus, was wir tun und leisten müssen, sondern was Gott in Christus für uns getan hat. Um besser zu verstehen, was das Evangelium ist, kann es hilfreich sein, sich vor Augen zu führen, was es nicht ist. Timothy Keller verweist hier auf zwei Feinde. „So wie Jesus zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt wurde, wird das Evangelium auf ewig zwischen zwei Irrtümern gekreuzigt.“  Durch diese (wohl auf den alten Kirchenvater Tertullian zurückgehende) Formel wird deutlich, dass das Evangelium ständig von zwei Seiten bedroht wird. Beim „Feind zur Rechten“ handelt es sich um den „Moralismus“ oder die „Gesetzlichkeit“. Hier steht im Vordergrund, dass der Mensch ein gutes, heiliges, Gott wohlgefälliges Leben führen müsse, um erlöst zu werden (gegen Römer 5,1 u.a.). Meine Gottesbeziehung hängt dann entscheidend davon ab, was ich tue und wie ich lebe. Beim „Feind zur Linken“ handelt es sich um den „Relativismus“ oder die „Gesetzlosigkeit“. Hier wird die Meinung vertreten, dass ein heiliges, an Gottes Geboten orientiertes Leben gar nicht nötig sei, weil Gott jeden Menschen so liebt und annimmt, wie er ist (gegen Johannes 14,23 u.a.). Hier hat sich die Idee eingenistet, wir könnten mit Gott in Beziehung leben, ohne dass dabei der Gehorsam gegenüber seinem Gesetz und seinen Maßstäben eine Rolle spielt. 

 

Wer so das Evangelium als Zentrum aus den Augen verliert, gerät theologisch und geistlich in eine Schieflage. Wie bestimmend und einflussreich diese Feinde sind, lässt sich übrigens nicht zuletzt an manchen theologischen Diskussionen in unseren christlichen Kreisen ablesen. Zurecht wird da (auch vor dem realen Hintergrund notvoller persönlicher Erfahrungen) gegen eine ungesunde Gesetzlichkeit die Stimme erhoben. Wenn dann aber im Namen der Gnade ein immer weniger auf biblische Maßstäbe fokussiertes christliches Leben als einzige Alternative präsentiert wird, ist das zwar unter Umständen progressiv, aber nicht mehr evangeliumsgemäß. Andere haben stärker die Gefahr des Relativismus im Blick und wollen der biblischen Wahrheit auch in ihrer ethischen, das alltägliche Leben prägenden Dimension zur Geltung verhelfen. Wenn dadurch aber Gehorsam gegenüber dem Gesetz sowie Moral und gute Werke unmerklich zum Fundament christlicher Identität mutieren, ist man auch hier einem der Feinde des Evangeliums auf den Leim gegangen. Für den einzelnen Christen wie für die Gemeinde als Ganzes gilt: Wenn es um das Evangelium geht, müssen wir uns vor zwei Feinden in Acht nehmen! 

 

Die Kraft des Evangeliums

Die befreiende und herausfordernde Balance zwischen Gottes Heiligkeit und seiner Liebe kommt auch in einer weiteren prägnanten Aussage Kellers zum Ausdruck: 

„Ich bin so sündhaft und schlecht, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Und ich bin [in Christus] angenommener und geliebter, als ich je zu hoffen gewagt hätte.“

Mit anderen Worten: Die Kraft des Evangeliums wirkt in zwei Richtungen. Einerseits führt mich das Evangelium zur Erkenntnis, dass ich angesichts der ehrfurchtgebietenden Heiligkeit Gottes sündiger bin, als ich es mir eingestehen will. Damit ist eine Haltung ausgeschlossen, die allzu leichtfertig die Bedeutung der Gebote Gottes für das christliche Leben relativiert. Andererseits macht mir das Evangelium bewusst, dass die Liebe Gottes weiterreicht, als ich es mir hätte erträumen können. Damit ist wiederum ausgeschlossen, dass ich meine Annahme bei Gott in gesetzlicher Weise von meinem Gehorsam abhängig mache.  

Das Evangelium macht uns deutlich: Wir sind aus Gnade durch den Glauben und damit unabhängig von guten Werken und religiöser Leistung gerettet – um dann auf der Grundlage dieser bedingungslosen Annahme ein Leben zu führen, das Gott ehrt. Das Tun des göttlichen Willens ist eine natürliche Antwort auf das Gnadenhandeln Gottes. Es wird zum Ausdruck der Liebe und Dankbarkeit dem gegenüber, der sich selbst gegeben hat, um uns zu retten. So führt das „Umparken im Kopf“ zu einer „Erneuerung im Herzen“. Gnade führt nicht zu Gesetzlosigkeit! Und Gehorsam ist nicht gleichbedeutend mit Gesetzlichkeit!