Wenn die Bibel mehr als Gott geliebt wird 

Ein herausfordernder Artikel von Siggi, der aufzeigt, dass es eine Liebe zur Bibel gibt, die uns eher von Gott wegzieht, als dass sie uns zu ihm hinbewegt.
Wenn die Bibel mehr als Gott geliebt wird 

Das Dilemma 

Das, was mir hier in diesem Artikel wichtig geworden ist, ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Laufen im Minenfeld. Ohne Betäubung mit einem Skalpell an einer offenen Wunde rumkratzen. Ein echtes Dilemma. Der folgende Text hat also das Potenzial dich unruhig zu machen oder zu verärgern. Du willst wissen wieso? 

Ich bin mit der Bibel aufgewachsen. Habe Bibelverse auswendig gelernt. Mir wurde sie lieb gemacht. Habe sie unfassbar schätzen gelernt.  Mein Leben und mein Alltag und mein Charakter wurden vom Heiligen Geist durch das Lesen der Bibel geprägt. Und bis heute habe ich unglaubliche Freude am Bibellesen. Und am Austausch darüber. Vielleicht geht es dir auch so. Und dennoch hab ich auch den Stolz erlebt, der dadurch in mir wuchs. Ich wusste viel. Mehr als die anderen. War eifriger. War unzufrieden mit anderen Christen. Konnte sie zurechtweisen. Aber konnte auch mein eigenes Herz vor einer tiefen Veränderung jahrelang schützen: »Ich habe ja meine festen biblischen Überzeugungen. Brauche keine Veränderung.« Die Veränderungen kamen dann mit Anfang 20 bei mir. Ich habe nämlich trotz der Bibel ohne Veränderungen und mit kraftlosem Glauben gelebt. Weil ich viel wusste, fiel mir das Hören schwer. Und das macht es für mich auch so herausfordernd diesen Artikel zu schreiben: Das, was das ultimative Fundament meines Glaubens ist, kann mich offensichtlich stark an Gott vorbeiführen. Und das ist das Dilemma, das ich am Anfang meinte: Bis heute fällt es mir leider unglaublich leicht, die Beschäftigung mit der Bibel und mit theoretischen Glaubensthemen dazu zu benutzen, um vor den Aufträgen aus ihr und vor dem Kontakt mit Gott und Menschen zu fliehen.  

Und leider habe ich den Eindruck, dass es vielen Menschen wie mir geht. Das gleiche kann eigentlich jedem passieren, der eher ein Buch liebt als den Autor des Buches. Du wirst sagen, dass das nicht geht, weil das ja immer eine Einheit ist. Und ich würde autobiografisch sagen: »Doch! Es geht.« Und es ist auch genau das, was Jesus im Endeffekt kritisiert.  

Wie Jesus über Bibellehrer spricht 

Er kritisiert diejenigen, die besonders eifrig und ernst waren. Er hinterfragt den reichen, jungen Mann, der sich an ›alles gehalten hat‹ (Matthäus 19,20). Er kritisiert die Schriftgelehrten – Sadduzäer wie Pharisäer (Matthäus 23). Diejenigen, die sich in einer langen Linie von Vorfahren, Schrift und Tradition sahen (Johannes 8). Stehen diese Dinge nicht eigentlich für Zuverlässigkeit, Wahrheit und echte Stabilität? Jesus kritisiert also diejenigen, die die Überlieferung und die Liebe zur damals offenbarten Schrift scheinbar perfekt beherrschten. Wie konnten sie nur so weit weg davon sein?  

Wie kommt die falsche Lehre (Matthäus 16,11) grade von denen, deren Hauptbeschäftigung die Schrift war? Wie wird aus Freude am Bibellesen und Entdecken der Schrift Ich-Bezogenheit? Was treibt uns dazu Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Glauben (Matthäus 23,23) zu vernachlässigen? Wie kam trotz der täglichen Beschäftigung mit der damaligen Schrift das Scheinheilige dazu (Matthäus 23,27-28)? Und warum richtet der Herr seine größte Kritik nicht an die heidnische römische Politik, sondern an die Schriftgelehrten, die der Thora glauben, sie bewahren und ernst nehmen? 

Jesus zeigt mit seinen Worten, dass grade diejenigen, die das Wort Gottes die ganze Zeit vor Augen hatten und auch fähig waren, es zu lesen, zu studieren und wieder andere zu lehren, eine Schwäche haben. Sie sind besonders anfällig für Heuchelei, Machtmissbrauch, Stolz und gerade das aus dem Fokus zu verlieren, was unserem Gott besonders wichtig war. Das ist eine ernste Warnung. 

Mit Schriftliebe am Ziel vorbei 

Meine These ist, dass man heute mit großer Schriftliebe, die am Leben vorbeigeht, immer auch zusätzlich Wahrheiten aus dubiosen Quellen ›einkauft‹: »Trag dich in meinen Newsletter ein. Abonniere meinen Kanal mit den neuesten Endzeitnews. Mit neuen Entdeckungen und Erklärungen, die du noch nie gehört hast! Oder vielleicht was zu Israel: Darf es vielleicht noch ein Grundstück im verheißenen Land sein?« Ich will das nicht pauschalisieren – es ist gut informiert zu sein – aber kann es sein, dass wir mit jedem Video oder Abo in diese Richtung einen Schritt weiter weg von Matthäus 23,23 kommen? 

Weil ich Gottes Wort so liebte, lief das bei mir Ende der 2000er Jahre so: Ich konnte Widersprüche und Ungereimtheiten nicht stehen lassen, die mich beim Bibellesen beschäftigten. Um an eindeutige Wahrheiten Gottes zu kommen, brauchte ich also Google oder vielleicht ein Online-Forum, wo ich die Personen dahinter selbst gar nicht kannte. Sie sollten mich informieren. So kam ich über die Nephilim (1. Mose 6,4) nach Atlantis, dann zu einer flachen Erde, zu Aliens in Ägypten, zu Reptiloiden, zu Weltverschwörungen, zu Antisemitismus. Das ist übrigens die Verkettung wie Algorithmen unsere Informationsauswahl steuern. Heute würde ich vermutlich in diesem Spektrum noch Schwab, Soros und Grundskepsis an allem finden, was an offiziellen Wahrheiten über die etablierten Medien kommt. Es sind nicht wenige überzeugte Christen, die sich in diesem Becken tummeln. Und plötzlich ist der Motor nicht mehr das, was unser Herr im Fokus hatte, sondern führt dazu, Entgleisungen von Präsidenten und Menschen zu entschuldigen und Misstrauen unter Christen zu säen. »Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glaube«? Mit gewichtiger ›klarer Kante‹ und dem Verweis auf Epheser 5,10-13 wird nahezu jede Indie-Quelle irgendwie rechtfertigt. Denn die neuen Schwerpunkte, die meine neue verkümmerte Schriftliebe lenken, kommen immer durch Impulse von außerhalb. Von außerhalb der Gemeinde. Von außerhalb meines persönlichen Umfelds durch YouTube, Telegram, Patreon, Parler und weiteren Newslettern. Die Auslegungsgemeinschaft vor Ort, in die mich Gott gestellt hat, verliert ihren Wert. Ich neige zu Online-Kommunen mit Gleichgesinnten. 
Das Evangelium wird dabei zusätzlich ausgeblendet. Man kippt auf eine Seite. Im universitären Bereich auf Bibel + Wissenschaft, wodurch heute sehr viel beliebig erscheint, auf der anderen Seite Bibel + klare Abgrenzung, wodurch Einheit erschwert wird.1 

Und was bleibt von einer ganzheitlichen Veränderung, wie Gott sie will? 

Wie ich erkenne, dass ich das Buch mehr liebe 

Offensichtlich verändert mich nicht das Studium des Gesetzes Gottes, sondern etwas anderes. 

»Was!? Moment Mal! Was ist mit Bibelstellen, die zeigen, dass wir eigentlich durch Gebote und Gottes Wort halten genau in dieser Liebe leben, die Gott möchte?« (Johannes 15,10; 1. Johannes 2,5; 2. Johannes 1,6) Oder 1. Timotheus 3,16-17: »Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes richtig sei, für jedes gute Werk ausgerüstet.« 

Es geht um mehr als Studium. Wir sollen leben, was wir lesen und erkennen – vor allem die Dinge, die Jesus besonders wichtig sind. Wir können uns nämlich täglich der Bibel aussetzen, ohne Gott zu lieben. Wir können unsere Systeme und unsere Denkmuster jeden Tag erfolgreich weiter vor ihr schützen. Wie die Pharisäer. Und wie? Indem wir uns bequem die Rosinen rauspicken. Indem wir Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glauben übersehen (Matthäus 23,23). Die Liebe zu Gottes Wort allein bedeutet also leider noch nicht, dass wir unser Leben anpassen. Lebensveränderung und Liebe zu Gott geschieht genau dann, wenn wir das zulassen. Die Folgen sind, ... 

  1. …, dass der Name und die Herkunftslinie und unser theologisches System, das wir predigen, weniger wert ist als die gnädige Zuwendung, mit der wir einem sozial Schwachen begegnen. 

  2. …, dass wir Einheit leben, anstatt bei unseren Gemeindelabels zu bleiben. 

  3. …, dass wir weniger Gemeinde XY promoten oder uns auf geistliche Väter beziehen, sondern den Nachbarn oder Migranten am Tisch sitzen haben. 

  4. …, dass wir als Christen nicht nur für die Liebe zur Bibel, sondern vor allem für die Liebe zum Nächsten (Matthäus 22,37-39) bekannt sind

Dass wir stärker das Buch lieben als Gott erkenne ich, … 

  1. …, wenn ich Bibel studiere, aber nicht mehr weiß, wie es den Menschen in meiner nächsten Nähe geht. 

  2. …, wenn ich Nachbarn ignoriere und ich keinen Bezug zu Menschen habe, die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit brauchen (Lukas 10,32). 

  3. …, wenn ich niemanden mehr kenne, dem ich das Evangelium weitergeben kann. 

  4. …, wenn mir die Beschäftigung mit komplexen Streitfragen und Wahrheiten, die mir nicht zustehen (Matthäus 22,23), wichtiger werden als Gutes zu tun. 

  5. …, wenn der konstante Fokus auf Jesus mich ärgert (Apostelgeschichte 4,1). 

  6. …, wenn ich Neid und Eifersucht in mir erkenne (Apostelgeschichte 5,17). 

  7. …, wenn ich mich drauf verlasse, das Wort Gottes einfach nur zu lesen (Jakobus 1,23). 

Alexander Garth drückt das so aus: »Gemeinden oder theologische Bewegungen, die einfach verliebt sind in ihre Tradition und den Kontakt zu ihrer säkularen Umwelt verloren haben, haben keine missionarische Kraft.« (20:46) 

Wie du dich selbst prüfen kannst 

Wie teste ich jetzt, ob ich die Bibel mehr als Gott liebe? Das Kennzeichen eines gesunden und ausgewogenen biblischen geistlichen Lebens ist meines Erachtens, wenn in deinem Alltag passiert, was Jesus Christus im Kern möchte und du das aus seiner Kraft tust (Johannes 15,1-8). Und wenn du aus einer engen Bibel-, Instagram- oder Telegrambubble in eine ganz andere Welt hinaussehen musst. 

Wenn du den Eindruck hast, dass bei dir was kippt, entweder in Richtung »Bibel + intellektuell, clever, triumphale und weite Weltsicht« oder von »Bibel + wortgetreue immer enger werdende Weltsicht«: 

  • Verbringe gezielt intensiv viel Zeit bei Armen, Trauernden, Unterdrückten, Geflüchteten, Alten und Ausgestoßenen der Gesellschaft. 

  • Übe Liebe zu Menschen einer anderen Religion. Sei bei ihnen, diene ihnen und sage die gute Nachricht weiter.  

  • Besuche Gefangene und teile das Evangelium. 

  • Geh in deinem Urlaub für 1-2 Wochen in einen sozialen Brennpunkt. Diene dort gezielt Menschen und sprich dort über deinen Glauben, um aus deinem Bibel-Elfenbeinturm zu fliehen. 

Das ist kein Text, der rechtfertigt, deine Bibel zur Seite zu legen, sondern dort ernst zu nehmen, wo du die Bibel benutzt, um vor den Gedanken Gottes daraus zu fliehen. 
Hilfreiche Bibelstellen zur Prüfung und Fragen dazu  

Micha 6,8; Matthäus 25,31-46; Matthäus 5,1-12; Jesaja 1,17 

  1. Wer schließt aktuell von deinen Studien auf den Vater im Himmel und dankt ihm und ehrt ihn? (Matthäus 5,16) 

  2. Bleibt Matthäus 23,23 durch die Bibel in deinem alltäglichen Leben im Fokus?