Was ist das Gewissen und warum brauchen wir es?
Dieser Artikel gibt dir eine Einführung dazu, was das Gewissen ist, wie es arbeitet und was es für einen Einfluss hat.
Das Gewissen
Gerd Grumm[1] ist Fernfahrer und befährt regelmäßig eine Route nach Südeuropa. Die ist so getaktet, dass er die ganze Woche auf Achse und am späteren Freitagnachmittag wieder zu Hause ist. Nun quält sich Gerd seit einiger Zeit mit einem Ereignis herum, das besser nicht ans Licht kommen sollte. Es wäre zumindest von Vorteil für ihn. Die nackte Logik rät ihm: „Halt die Klappe, das erfährt niemand“. Sein Gewissen sagt das Gegenteil: „Du musst den Mund aufmachen! Du wirst erst Ruhe haben, wenn du dich stellst“. Irgendwann gewinnt das Gewissen. Paul ignoriert die vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten, um früher nach Hause zu kommen. Früh genug, um rechtzeitig in der lokalen Polizeidienststelle erscheinen zu können.
Was ist das Gewissen? Was ist das für eine geheimnisvolle Instanz, die einen Menschen nötigen kann, etwas zu tun, was ihm nicht von Vorteil ist? Wer oder was steuert es? Ist es eine eigenständige Instanz neben dem „ICH“?
Das sind gute Fragen, die leichter zu stellen als zu beantworten sind. Wir wissen zwar genau, was gemeint ist, wenn wir von Gewissen reden, aber wenn wir erklären sollen, was es ist und wie es funktioniert, wird es schwierig. Das geht nicht nur uns so, sondern auch den Fachleuten bzw. denen, die man dafür hält. Wie schwierig die Geschichte ist, sieht man schon daran, dass es wenigsten 10 verschiedene Erklärungsversuche für das Gewissen gibt. Und es ist keineswegs so, dass die Fachleute einer Meinung sind. Es gibt zwar Modelle, die nah beieinander liegen und sich nur in Nuancen, unterscheiden. Andere sind so grundsätzlich anders, dass man kaum glauben kann, dass alle von der gleichen Sache reden.
Wir beginnen damit, dass wir uns drei dieser Erklärungen anschauen. Das geht hier nur knapp und vielleicht etwas verkürzt, aber es reicht, um bestimmte Muster zu erkennen.
Das Gewissen als Krankheit, als Verfallserscheinung
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
Für Nietzsche ist das Gewissen ein Hinweis, dass mit uns Menschen etwas nicht stimmt. Das Gewissen ist "die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewütet hat". Die polaren Werte Gut‑Böse und damit auch das Gewissen sind eine Erfindung des Menschen und Zeichen der Dekadenz der menschlichen Rasse. Sie sind eine "Verfallserscheinung" – so kann sich Nietzsche empören. Aber wovon ist der Mensch gefallen?
Früher, so seine Vorstellung, war der Mensch groß, stolz und grausam ‑ der Herrenmensch schlechthin. Am Anfang, als alles noch sehr gut war, herrschte "das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie". Aber dann begann der Abstieg: Die wertlose Masse der Schwachen, die "Sklaven, Pöbel, Kellertiere" rotten sich zusammen und wollen nicht nur Opfer sein. Sie begannen, den Guten das Rückgrat zu brechen, indem sie Gott erfanden und dessen angebliche Gebote. Das drehte die gesamte bis dahin gültige Ordnung: Was vorher Gut war (grausam, groß, gewalttätig) ist jetzt schlecht. Was vorher schlecht war ist jetzt gut: Mitleid, Liebe, Nachsicht usw. Das angeblich göttliche "Du sollst nicht..." bringt nun das schlechte Gewissen hervor. Das zentrale Symbol dieses Verfalls ist für ihn das Kreuz.
Erlösung davon wäre: Die Dreieinheit Gott/Gut‑Böse/Gewissen, diese jüdisch‑christliche Erfindung, muss verschwinden. Und Nitzsche ist zuversichtlich: Irgendwann kommt er, der "Mensch der Zukunft", der mit dem Atheismus eine Art zweite Unschuld bringen wird. Und für diese Gestalt hat er auch schon einen Namen: Der Antichrist.
Das Gewissen als Sammelbecken der Umweltnormen
Herbert Spencer (1820-1903)
Spencer war ein englischer Philosoph und Sozialwissenschaftler. Er hat den Gedanken der Evolution – irgendwie analog zu Darwins Theorie einer biologischen Entwicklung - auf die Gesellschaft übertragen. Spencer gilt als einer der letzten Universalgelehrten, hat sehr viel geschrieben und äußert sich auch zum Gewissen und seiner Funktionsweise.
Seine Vorstellung ist recht einfach. Das Gewissen ist bei der Geburt eines Menschen ein leeres, unbeschriebenes Blatt. Beschrieben wird es mit positiven Erfahrungen und mit Warnungen, also dem, was förderlich ist und dem, was man meiden muss. Der Mensch ist somit kein wirklich autonomes Wesen, sondern in seinem Tun ein Abklatsch der Gesellschaft. "Wie er räuspert, wie er spuckt, hat er der Umwelt abgeguckt". Das Gewissen ist kein Schuldgewissen, sondern ein programmiertes Nützlichkeitsgewissen.
Man kann damit manches erklären, aber Spencers Ansatz reicht nicht aus, um das Gewissen zu erklären. Warum G. Grumm in der anfangs erwähnten Episode zur Polizei geht, um sich zu stellen, ist mit der Annahme eines auf Nützlichkeit programmierten Gewissens nicht zu erklären.
Das Gewissen als verinnerlichte Gesellschaftsnorm
Sigmund Freud (1856-1939)
Freud´s Modell ist deutlich komplexer. Er geht davon aus, dass im Menschen zwei polare Grundtriebe am Werk sind, die ihn in Bewegung setzen: Eros und Thanatos. Die Summe dieser im Menschen gärenden Triebe nennt er unpersönlich "ES". Wie entsteht nun das Gewissen? Vereinfacht erfolgt es nach diesem Muster:
- Schritt: Angst vor Liebesverlust. Das Kind würde gerne die Vase vom Schrank holen, hat aber Angst vor den Folgen...
- Schritt: der älter werdende Mensch verinnerlicht die im Kindesalter anerzogenen Normen, sie werden zu seinem eigenen Fleisch und Blut. Sie werden zum inneren Echo dessen, was ihm „eingetrichtert“ wurde. Damit ist das Gewissen geboren, das "Über ‑ Ich", wie er es nennt. Somit ergibt sich diese Konstellation: Es ‑ Ich – Über-Ich. Das ICH hat einen schweren Stand. Es ist eingezwängt zwischen Trieb und Norm und selbst der Therapeut steht ziemlich hilflos an der Pritsche des geplagten Patienten.
Gemeinsam sind Nitzsche, Spencer und Freud, dass ihre Erklärung des Gewissens ohne jeden metaphysischen Bezug angelegt ist. In Nitzsches System spielen zwar Gott und die Gebote eine Rolle, aber sie sind für ihn Erfindungen und keine wirklichen Größen.
In dem nachfolgend beschriebenen Verständnis wird ausdrücklich davon ausgegangen, dass das Gewissen einen wenigsten indirekten Gottesbezug hat.
Gott, Bibel und Gewissen
Wer die Bibel aufschlägt und nach „Gewissen“ sucht, findet im Alten Testament gar nichts, im Neuen Testament einige Textbezüge, aber nirgends eine zusammenhängende Erklärung. Die finden wir bei den meisten Themen nicht, denn die Bibel ist kein Lexikon und wer mehr wissen will, muss sich an die Arbeit machen und die Texte anschauen und sinnvoll verknüpfen.
Wenn "Gewissen" im AT nicht vorkommt (die Vokabel gibt es im Hebräischen nicht), waren die Menschen deswegen nicht gewissenlos. Andere Begriffe ersetzen das, was wir Gewissen nennen (wenigstens zum Teil): HERZ und NIERE, wie z.B. in 1.Sam. 24,6: „Aber danach geschah es, da schlug dem David das Herz, weil er den Zipfel ⟨vom Oberkleid⟩ Sauls abgeschnitten hatte“.
Sicher sinngemäß richtig geben kommunikative Bibelübersetzungen wie die NEÜ diesen Satz mit „Gewissen“ wieder: „Danach aber schlug ihm das Gewissen, weil er das getan hatte“.
Wir versuchen, das Gewissen zu verstehen, indem wir vier Fragen stellen und zu beantworten versuchen:
- Wer redet im Gewissen?
- Wie arbeitet das Gewissen?
- Ist es störanfällig?
- Welchen Einfluss hat es, wenn ein Mensch zum Glauben kommt
1. Frage: Wer redet im Gewissen?
Römer 2,14+15 Und wenn nun Menschen aus nichtjüdischen Völkern, die keine Beziehung zum Gesetz Gottes haben, von sich aus so handeln, wie es das Gesetz fordert, dann tragen sie das Gesetz in sich.15 Sie beweisen damit, dass ihnen die Forderungen des Gesetzes ins Herz geschrieben sind.
Römer 1,32 Obwohl sie wissen, dass jeder, der so handelt, nach Gottes Gesetz den Tod verdient, tun sie es nicht nur selbst, sondern finden es auch noch gut, wenn andere es ebenso machen.
Das ist ein spannender Punkt, über den schon viel nachgedacht wurde. In den drei oben erwähnten Theorien ist es auf irgendeine Weise die Umwelt, die sich über das Gewissen meldet. Wir verfolgen eine völlig andere Spur: Gibt es „von Natur aus“ – also unabhängig von Erziehung, Bildung oder Sitte – eine moralische Grundausstattung? In der Theologie wird das unter der Frage nach dem „Naturrecht“ behandelt.
Paulus würde antworten: JA. Wir achten auf den Text aus dem Römer 2. Paulus beschreibt, dass auch Menschen ohne Zugang zum Gesetz Gottes in grundlegenden moralischen Fragen so handeln, als würden sie das Gesetz kennen und er zieht daraus den Schluss, dass Gott so etwas wie ein „moralisches 1 x 1“ von Natur aus in das Herz des Menschen gelegt hat. Auch in seiner Argumentation in Römer 1,32 geht er davon aus, dass Menschen eigentlich wissen, was richtig wäre. Aber sie entschließen sich, entschieden gegen Gott und sein Gesetz zu handeln und freuen sich über jeden, der mitsündigt. Was wir hier nebenbei lernen: Sünde ist „missionarisch“, sie freut sich über Vermehrung.
Man kann das auch in anderen Zusammenhängen erleben. Falls du dein Christsein nicht versteckst und in deiner Umgebung gelegentlich von deiner Überzeugung redest, kann es sein, dass dir bei passender Gelegenheit mitgeteilt wird, was du als Christ darfst oder nicht darfst. Die das sagen, fühlen sich der Norm, die sie dir als Christ nahelegen, selbst überhaupt nicht verpflichtet.
Wer redet im Gewissen? Das Gewissen ist nicht die Stimme Gottes, aber indirekt, also über das „ins Herz geschriebene Gesetz“, spricht es den Menschen im Sinn Gottes an.
2. Frage: Wie arbeitet das Gewissen?
Römer 2,15 Sie beweisen damit, dass ihnen die Forderungen des Gesetzes ins Herz geschrieben sind. Das zeigt sich auch an der Stimme ihres Gewissens und am Widerstreit ihrer Gedanken, die sich gegenseitig anklagen oder auch entschuldigen.
Das lässt sich sehr gut mit dem Stimmgerät einer Gitarre vergleichen. In diesem Gerät sind die sechs richtigen Frequenzen der Gitarrensaiten gespeichert. Ein Sensor registriert die Frequenz der angeschlagenen Saite und vergleicht diese Frequenz mit der Norm - und teilt uns das Ergebnis mit. Eine Warnfarbe, wenn es nicht passt und irgendeine Form der Zustimmung, wenn keine Korrektur nötig ist.
Wie arbeitet das Gewissen? Das Gewissen ist ein Vergleichsinstrument. Es „erfindet“ die Norm nicht, sondern die liegt vor (Römer 2,15 „…ins Herz geschrieben“). Damit arbeitet das Gewissen, vergleicht mit der Tat und „klagt an oder entschuldigt“. Der Text in Römer 2 ist höchst aufschlussreich und es lohnt sich, die Verse 14 und 15 in verschiedenen Übersetzungen zu lesen.
3. Frage: Ist das Gewissen störanfällig?
2. Tim. 1,3 Ich danke Gott, dem ich von ⟨meinen⟩ Voreltern her mit reinem Gewissen diene…1. Tim. 4,1-2 Der Geist aber sagt ausdrücklich, dass in späteren Zeiten manche vom Glauben abfallen werden, indem sie auf betrügerische Geister und Lehren von Dämonen achten, 2 durch die Heuchelei von Lügenrednern, die in ihrem eigenen Gewissen gebrandmarkt sind…
Ja, leider. Karl Heim formuliert es einmal so: Es ist ein Instrument, dessen „Klaviatur misshandelt“ wurde. Er bezieht sich bei diesem Kommentar auf den Text aus 1. Timotheus 4.1-4. Was in diesem Textzusammenhang besonders fies ist: Das verstimmte Gewissen kommt hier im Gewand besonderer Frömmigkeit daher: Wer es ganz ernst meint, trinkt keinen Alkohol, trinkt keinen Kaffee, denkt nicht ans Heiraten usw. Es gibt ein gottlos verstimmtes Gewissen, aber es gibt auch ein überfromm verstimmtes Gewissen, dass genauso gestört ist wie das andere.
Aus welcher Quelle kommen diese Ideen, die das Gewissen „verstimmen“? Paulus verweist ganz undiplomatisch auf betrügerische Geister und dämonische Lehren. Die stecken auch hinter der frommen Variante des verbogenen Gewissens. Auch wenn wir auf Paulus selbst schauen, dann merken wir, wie sich die fromme Variante eines verstimmten Gewissens äußern kann. Er hat Gott immer mit gutem Gewissen gedient. Er ist mit gutem Gewissen nach Damaskus gereist, er hat sich guten Gewissens Haftbefehle gegen Christen besorgt, bis der große Gewissensstimmer selbst in sein Leben getreten ist.
Ist das Gewissen störanfällig? Ja. Und zwar in zwei Richtungen: Liberal und überfromm. Hinter beiden Varianten steckt der gleich gottfeindliche Urheber.
4. Frage: Welche Auswirkungen auf das Gewissen hat es, wenn sich ein Mensch bekehrt?
Hebr. 9,14 Wie viel mehr bewirkt dann das Blut von Christus, dem Messias. Denn er hat sich selbst Gott als makelloses Opfer dargebracht. ‹Gottes› ewiger Geist hat ihn dazu geführt. Und deshalb reinigt sein Blut unser Gewissen von toten Werken, damit wir jetzt imstande sind, dem lebendigen Gott zu dienen.1Tim 1,19 Bleib in deinem Glauben fest und bewahre dir ein reines Gewissen. Einige haben das leider von sich gestoßen und dadurch im Glauben Schiffbruch erlitten.
Das Evangelium betrifft den ganzen Menschen. Auch dass Gewissen. Beginnen wir bei dem Hebräertext nebenan: Hier wird nur ein spezielles Thema behandelt, aber das ist zentral: Wer begriffen hat, dass das Blut Jesu alle Sünde löscht und keine Ergänzung braucht, dann heilt das das Gewissen von dem Druck, irgendwelche eigenen Leistungen bringen zu müssen.
In dem Luther Film mit Joseph Fiennes gibt es eine Szene, in der Luther auf Knien die Heilige Stiege zum Lateran hochkriecht und auf jeder Stufe ein Vaterunser betet, um seinen Großvater aus dem Fegefeuer zu erlösen. Oben angekommen knüllt er das Ablasspapier zusammen – und auf diese Hand ist die Kamera gerichtet - und wirft es weg. Ob hier oder bei anderer Gelegenheit: Er hat begriffen, was „tote Werke“ sind. Das Blut Jesu rettet, sonst nichts.
Welchen Einfluss hat der Glaube auf das Gewissen? Der Einfluss des Evangeliums, gute biblische Lehre, die Wirkung des Heiligen Geistes und Abstand zur Sünde fördern gemeinsam die Genesung des Gewissens.
[1] Die Begebenheit ist echt, Name und Verhältnisse sind geändert.