Was ist Wahrheit?

Wie ist das möglich, dass einerseits ein Leben ohne Wahrheit in Schule und Beruf, im Familienleben und in den Gerichtssälen überhaupt nicht denkbar ist, andererseits die Menschen gegenüber der „Wahrheit“ so miss­trauisch geworden sind?
Was ist Wahrheit?

„Die eine Wahrheit gibt es nicht, und wenn es sie gäbe, würden wir es nie erfahren“, das scheint heutzutage die Grundüberzeugung sehr vieler Men­schen zu sein. Wir verspüren heute oft zynische Verachtung gegenüber der Wahrheit. Die Popgruppe Rosenstolz bekennt: „Wahrheit ist doch nur was für Idioten“. Tocotronic, eine Hamburger Band, die den Zeitgeist klug zu reflektieren versteht, stellt auf ihrer Platte „Pure Vernunft darf niemals siegen“ heraus, dass wir Lügen brauchen, um unsere Scheinwelten aufrechterhalten:

Pure Vernunft darf niemals siegen
Wir brauchen dringend neue Lügen
Die unsere Schönheit uns erhalten
Uns aber tief im Innern spalten

Wie ist das möglich, dass einerseits ein Leben ohne Wahrheit in Schule und Beruf, im Familienleben und in den Gerichtssälen überhaupt nicht denkbar ist, andererseits die Menschen gegenüber der „Wahrheit“ so miss­trauisch geworden sind? Bestimmt hängt es damit zusammen, dass die Wahrheit eine lange und nicht immer ruhmreiche Geschichte hat. In ihrem Namen wurden furchtbare Verbrechen verübt, Fehlurteile gesprochen und tragische Kriege angezettelt. Die Skepsis gegenüber der Wahrheit ist tief verwoben mit politischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen in Europa. Da diese lange Geschichte hier nicht erzählt werden kann, beschäf­tigen wir uns kurz mit einem Mann, der vielleicht wie kein anderer an der Auflösung der „Wahrheit“ mitgewirkt hat: Friedrich Nietzsche (1844–1900).

Der Wandel des Wahrheitsverständnisses

Das europäische Abendland vertrat über viele Jahrhunderte hinweg ein Wahrheitsverständnis, nach dem Wahrheit die Übereinstimmung einer sprachlichen Aussage mit der Wirklichkeit ist. Eine Aussage (z. B. „es regnet“) ist demnach genau dann wahr, wenn sie einem Sachverhalt entspricht (es also tatsächlich regnet). Dem Pfarrerssohn Nietzsche fiel auf, dass dieses Wahrheitskonzept aufs engste mit der Existenz Gottes, dem Hüter der Wahrheit, verknüpft ist. Wenn es allerdings stimmt, dass „Gott tot ist“, weil wir Menschen ihn getötet haben, gibt es für Nietzsche keine Wahrheit und keine Moral mehr. Es gibt nur unterschiedliche Interpretation, keine Tatsachen mehr (vgl. KSA, Bd. 12, Fragment 7 [60]. S. 315). An die Stelle der Wahrheit setzte Nietzsche eine kompromisslose Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber.

Nietzsches Gedanken fanden nach seinem Tod enthusiastische Anhänger. Viele der Denker, die wir heute mit dem „Existentialismus“ oder dem „Postmodernismus“ in Verbindung bringen, stehen in der Schuld Nietzsches. Zu ihnen gehören Martin Heidegger, Simone de Beauvoir, Michel Foucault oder Jacques Derrida. Unter ihrem denkerischen Einfluss haben ehemals christlich geprägte Begriffe wie „Freiheit“ oder „Seele“ tiefgreifende Umdeutungen erfahren. Der traditionelle Wahrheitsbegriff wurde von einem subjektiven Wahrheitsverständnis abgelöst Auch der traditionelle Wahrheitsbegriff wurde so von einem subjektiven Wahrheitsverständnis abgelöst.

Die subjektive Wahrheit oder der Wahrheitsrelativismus ist inzwischen fest in der Gesellschaft verankert. Jeder hat seine Wahrheit. Der Philosoph Harry Frankfurt konnte außerdem zeigen, dass sich in der Gesellschaft immer mehr „Bullshit“ ausbreitet. Unter Bullshit versteht Frankfurt Aussagen, die vortäuschen, um Wahrheit und Aufrichtigkeit bemüht zu sein, für deren Absender jedoch letztlich ein Wahrheitsbezug belanglos ist. „Bullshiter“ tun so, als betrieben sie Vermittlung von Informationen, tatsächlich manipulieren sie Meinungen und Einstellungen von Menschen. So sind wir umgeben von Meinungsmüll, der eine Unterscheidung von Wahrheit und Lüge kaum mehr zulässt.

Glaubenswahrheit vs. objektive Richtigkeit

Aber nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Kultur des Glaubens und das Missionsverständnis hat die Umdeutung der Wahrheit Konsequenzen. „Was du glaubst, ist deine Sache und was ich glaube, ist meine Sache.“ So denken heute viele Leute, dass es in den Fragen des Glaubens nicht um Wahrheit und Richtigkeit, sondern um Tradition und persönliche Neigungen geht.

Nun ist es sicher hilfreich, andere Perspektiven zu Wort kommen zu lassen und nicht selbstverständlich davon auszugehen, dass die eigene Sicht der Dinge die richtige ist. Die Parteien der Religionskriege nach der Reformation haben sich alle mehr oder weniger auf die Bibel berufen und sind doch in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung gewesen. Doch dieses Wahrnehmen verschiedener Meinungen ist nicht das gleiche wie der Wahrheitsrelativismus, sondern eine wichtige Voraussetzung für das Entdecken und Überprüfen von Wahrheit. Wahrheit muss sich in der Wirklichkeit bewähren.

Die Wahrheit des christlichen Glaubens ist nur erkenn- und erfahrbarNatürlich ist eine Glaubenswahrheit etwas anderes als objektive Richtigkeit. Sachverhalte, wie zum Beispiel die Richtigkeit von mathematischen Gleichungen, lassen sich feststellen, ohne dass ich von dem Ergebnis persönlich betroffen bin. Die Wahrheit des christlichen Glaubens ist dagegen nur erkenn- und erfahrbar, wenn ich mich willentlich auf eine persönliche Beziehung mit Gott einlasse und bereit bin, dafür auch Verantwortung zu übernehmen (vgl. dazu Johannes 7, 17 u. Markus 8, 34). Aber darf Glaube immer eine nur auf einen Augenblick bezogene persönliche Entscheidung sein, die sich einer objektiven Welt und einer gedanklichen Auseinandersetzung entzieht?

Stell dir einmal vor, du bekommst einen Brief, in dem dir ein Mensch, den du sehr magst, gesteht, dass er dich lieb hat. Zu wissen, dass dich jemand aufrichtig liebt, kann dein ganzes Leben verwandeln. Wer sich geliebt und angenommen fühlt, entwickelt eine andere Sicht für sich selbst und die Welt. Solch eine Erkenntnis ist also weit mehr als das Wissen um einen objektiven Sachverhalt. Aber ist so eine berührende Erfahrung wirklich etwas ganz anderes, als ein objektiver Sachverhalt? Ist es nicht bedeutsam, dass es den Menschen, der den Brief verfasst hat, auch wirklich gibt (Richtigkeit)? Ist es nicht von elementarer Wichtigkeit, dass dieser Mensch auch denkt, was er in diesem Brief aufgeschrieben hat (Wahrhaftig­keit)?

Glaube UND Wahrheit

Glaube hat also sehr wohl etwas mit Wahrheit zu tun. Nach dem Zeugnis der Bibel ist Gott selbst wahr (z. B. Jeremia 10, 10; Johannes 14,6 u. 1. Johannesbrief 5, 6. 20). Seine Wahrheit ist die Festigkeit und Verlässlichkeit, mit der er zu dem steht, was er tut und sagt. Wer sein Leben auf Gottes Wahrheit aufbaut, baut nicht auf Sand, sondern auf Fels und kann deshalb die Stürme des Lebens überstehen (vgl. Matthäus 7, 24–27). Wer auf Jesus Christus hört und ihm folgt, der „ist aus der Wahrheit“, (Johannes 18, 37). Weil die Wahrheit „Jesus“ ist (Epheser 4, 21), gilt es, ihr zu gehorchen (Galater 5, 7). Wer das tut, der wandelt in der Wahrheit, dessen Leben kommt in die Wahrheit. Das Annehmen und Bleiben in dieser Wahrheit führt in die Freiheit und zum Leben (Johannes 8, 31­–32).

Dem christlichen Glauben geht es um reflektierbare und prüfbare Inhalte und damit auch um die Wahrheit. Doch der Glaube an Gott ist nicht einfach richtiges Wissen über Gott. Glaube an Gott bedeutet, in einer lebendigen und willentlichen Beziehung mit ihm zu leben.