Erschütterungen im Glaubenshaus Was sind die Gründe zur Dekonstruktion?

Warum verlassen junge Menschen Gemeinden und geben manchmal sogar ihren ganzen Glauben auf?
Erschütterungen im Glaubenshaus  Was sind die Gründe zur Dekonstruktion?

Sie waren mit uns auf Freizeiten. In unseren Jugendgruppen. Nicht als Mitläufer. Sondern als engagierte Jugendliche. Bekehrt. Getauft. Haben mitgearbeitet. Waren leidenschaftlich dabei. Und irgendwann einfach weg.


Meinen Kollege Siggi und mich hat das nicht kalt gelassen. Wir haben angefangen, nach Gründen dafür zu suchen. Das Gespräch gesucht. Ganz viel dazu gelesen. Bestimmt über 1000 Instagram-Beiträge von 50-100 Menschen angesehen, die ihren Glauben dekonstruiert haben. Und dabei folgende Gründe entdecket, warum junge Erwachsene ihren Glauben in Frage stellen:

1. Christen haben mich enttäuscht

2. Mir ist Leid begegnet

3. Die Lebensregeln haben mich eingeengt

4. Mir wurde Bibeltreue versprochen – ich habe Systemtreue erlebt

5. Wissenschaftliche Erkenntnisse passen nicht zu meinen Glaubensüberzeugungen

6. Christliche Moralvorstellungen passen nicht in unsere Gesellschaft

7. Ich wurde unmündig gelassen - mein Glaube wurde nie reif und erwachsen

Wie geht es dir, wenn du diese Punkte liest? Ich bin immer noch … überfordert und mir tut es weh, dass wir als »ältere« Christen den Glauben Anderer ins Wanken bringen: manchmal durch unser Verhalten, manchmal durch wenige überzeugende und nicht tragfähige Antworten auf relevante Glaubensfragen. Die Themen sind groß. Ich kenne nicht alle Antworten. Deswegen sind folgende Erläuterungen auch nicht mehr als Anstöße zur Beschäftigung mit diesen großen und wichtigen Themen. Unsere Überlegungen haben dabei folgende Logik: Das »Glaubenshaus« der Jugendlichen war nicht tragfähig, weil sie nicht tragfähige Glaubensüberzeugungen erlernt haben – »falsche Versprechen«. Falsche Versprechen wurden ent-täuscht«. Diese Enttäuschung hat ihr Glaubenshaus ins Wanken gebracht und eine Krise des Glaubens ausgelöst, die bei einigen zu einer Veränderung ihres Glaubens und bei anderen zu einem Verlust des Glaubens führt.


1. Christen haben mich enttäuscht

Falsches Versprechen

»Innerhalb der Gemeinde ist alles gut – oder mindestens viel besser. Wir sind die wahren ›Glücklichen‹. Und sondern uns von dem Bösen - der Welt - ab. Innerhalb unserer Gemeindemauern ist alles anders und besser.«


Enttäuschung

Missbrauchserfahrungen. Ignoranz von Mental Health – Problemen. Arroganter Umgang mit Zweifeln. Schlechter Umgang mit Macht. Heuchelei. Irgendwann entdecken Jugendliche, dass das auch in den Gemeinderäumen stattfindet.

Ansatz

Du als Mitarbeiter zählst. Was Kinder und Jugendliche brauchen sind authentische Vorbilder. Keine perfekten Mitarbeiter. Keine Menschen ohne Fehler. Sondern Personen, die grundsätzlich das verkörpern, was sie auch sagen. Die keinen falschen Heiligenschein tragen.

Sondern die mit all ihren Ecken und Kanten das Vorleben, wovon sie reden. Dabei auch ihre schwachen Seiten zeigen. Über die Möglichkeit des Scheiterns sprechen. Und zeigen, was das Evangelium für Christen bedeutet.

Frage

Lebst du ein authentisches Leben?

2. Mir ist Leid begegnet

Falsches Versprechen

»Wenn du mit Gott unterwegs bist, dann gelingt dein Leben. Und wenn mal was Schlimmes passiert: denke an Römer 8. Kopf hoch. Alle Dinge tragen zu deinem Besten bei. Das Glücksevangelium lautet: mit Jesus wird dein Leben im hier und jetzt schon irgendwie gut. #blessed.«

Enttäuschung

Krisen kommen. Eine Krankheit. Der Tod einer geliebten Person. Irgendeine Form schlimmen Leides. Und »alle Dinge tragen zu deinem Besten bei« hört sich auf einmal nur noch wie Hohn an – vor allem, wenn sie dabei kein echtes Mitleid erleben. Oder sie beten und beten und haben ein gutes Anliegen – aber sie erfahren keine Gebetserhörung.

Ansatz

Wir müssen aufpassen, dass wir kein »Glücksevangelium« vermitteln. Auf der Erde wird nicht alles gut, es wird nicht jedes Gebet erhört und Christen passieren Dinge, die einfach nicht erklärlich sind. Es passieren Dinge, die einfach schlimm sind. Unerklärlich. Wo Trauer und Klage die einzigen angemessenen Reaktionen sind. Zu einer realistischen Erwartung gehört auch, dass »das Böse« nicht einfach »da draußen« außerhalb der Gemeindetüren – ist, sondern in jedem von uns. Und dass es auch in christlichen Gemeinden wütet.

»Wir betreiben im Licht Theologie, damit wir auch im Dunkeln auf ihr stehen können.« (Unbekannt)


Frage

Hält dein Glaube aus, mit Leid konfrontiert zu werden?

3. Die Lebensregeln haben mich eingeengt

Falsches Versprechen

»Wie wir hier in der Gemeinde leben: das ist ziemlich nah an dem, wie Gott sich das vorstellt. Und das ist Freiheit.«

Enttäuschung

Diese Freiheit fühlt sich manchmal wie ein Korsett an. Vor allem dann, wenn eine »Regelion« gelebt wird. Nicht mehr die Gedanken eines guten Gottes stehen im Vordergrund, sondern die konkreten »Ausführungsbestimmungen« der eigenen Gemeinde. Und da kann Glaube zum Zwang werden. Hölle zum Druckmittel.

Ansatz

Viele Jugendliche haben die Bibel als ein Regelbuch kennengelernt: »Das darfst du nicht«, »das musst du tun«. Dabei ist die Bibel nicht in erster Linie ein Moralbuch, sondern die Geschichte der Versöhnung Gottes mit den Menschen. Wie vermittelst du in deiner Kinder- und Jugendarbeit die Bibel? Mit dem Evangelium im Zentrum – oder als moralistisches Regelwerk?


Frage

Lehrst du das Evangelium oder eine Regelion?

4. Mir wurde bibeltreue versprochen – ich habe systemtreue erlebt

Falsches Versprechen

»Wir nehmen die Bibel noch wörtlich. Bei uns sind wir ziemlich nah an dem, was die Bibel meint. Nicht wie bei den Anderen. In Vers XXX steht: ...«

Enttäuschung

Traditionelle oder politische Überzeugungen werden mit biblischen Aussagen vermischt. Oder Jugendliche bekommen einfach nur platte Antworten auf ihre Fragen. Und sie merken: das Festhalten an der Heiligen Schrift wird verwechselt mit dem Festhalten an einem Glaubenssystem. Und in jungen Erwachsenen entsteht die Frage: und das soll Bibeltreue sein? Gerade dann, wenn sie von anderen Auslegern bessere Antworten bekommen.

Ansatz

Es kann ein echter Schock sein, wenn dir als Jugendlicher erzählt wird, dass die Glaubensüberzeugungen deiner Gemeinde sehr nah an den biblischen Gedanken sind – und du dann feststellst, dass das wohl nicht stimmen kann.

Ich habe in meinem Umfeld so vielen schlechten Umgang mit der Bibel erlebt:

· Überzeugungen werden auf eine Bibelstelle aufgebaut.

· Der Kontext wird vernachlässigt.

· Die Textgattung wird nicht berücksichtigt.

· Laien meinen, Fremdsprachenexperte zu sein.

· Die Adressaten des Textes werden nicht beachtet.

· Mit der Kultur wird alles ausgehebelt.

· Der kulturelle Kontext wird nicht beachtet.

Und und und. Es gibt so viele Fehlerquellen. »In dem Vers steht doch klar« reicht als hermeneutischer Ansatz nicht aus. Deswegen: Beschäftige dich damit, was gute Auslegung ausmacht. Sonst wächst in den Kindern und Jugendlichen eine Logik: »Wenn diese Aussage nicht stimmt, stimmen wahrscheinlich die anderen Sachen auch nicht.«

Frage

Reflektierst du die (hermeneutische) Brille, mit der du die Bibel liest?

5. Wissenschaftliche Erkenntnisse passen nicht zu meinen Glaubensüberzeugungen

Falsches Versprechen

»Die Bibel ist ein Wissenschaftsbuch. Du musst dich einfach an das Halten, wie wir mit der Bibel in der Hand die Welt verstehen. Dann wirst du Dinge richtig einordnen können: Corona, Klimawandel und alles andere. «

Enttäuschung

In der Schule und Uni erleben Jugendliche eine Horizonterweiterung. Vorher wurden sie von anderen Meinungen und auch von wissenschaftlichen Ergebnissen abgeschirmt. Sie kommen in Kontakt mit Menschen, die das Leben, die Geschichte und die Ergebnisse von Wissenschaft vollständig anders deuten. Und können das gut nachvollziehen. Manchmal haben sie den Eindruck, dass sie ihren Kopf an der Garderobe der Gemeinde abgeben müssen.

Ansatz

Wie können wir Jugendliche vorbereiten auf ihre Horizonterweiterung? Was bedeutet es, ihnen helfen, Gott zu lieben … auch mit ihrem Verstand? Je älter sie werden, desto müssen sie die Begründungen für ihren Glauben durchdenken. Sich mit schwierigen Themen auseinandersetzen. Dabei helfen gute Bücher. Hilfreiche Podcasts. Und Jugendmitarbeiter, bei denen die Jugendlichen merken, dass sie sich auch schon ernsthafte Gedanken zu den schwierigen Themen gemacht haben - und trotzdem glauben, auch wenn sie nicht auf alles eine perfekte Antwort haben.

Frage

Thematisierst du die Spannungen von Wissenschaft und Glaubensüberzeugungen?

6. Christliche Moralvorstellungen passen nicht in unsere Gesellschaft

Falsches Versprechen

»Die christlichen Moralvorstellungen sind überlegen. Und in unserer Gemeinde lehren wir sie ziemlich genau. Das Miteinander der Geschlechter gestalten wir so, wie Gott sich das vorstellt. Deswegen funktionieren die Ehen bei uns so gut. Menschen, die anders leben, geht es deutlich schlechter.“

Enttäuschung

In der Schule – auf TikTok erleben die Jugendlichen: Die christlichen Moralmaßstäbe passen nicht in unsere Gesellschaft. Der nette Schulfreund outet sich, Sara aus der Parallelklasse will auf einmal mit Tom angesprochen werden. Und während die Bundeskanzlerin lange Regierungschefin in Deutschland war, gibt es in der eigenen Gemeinde immer noch übertrieben patriarchale Strukturen. Und dann gibt es auf der anderen Seite Leute, die sich für Gerechtigkeit einsetzen. Für Umweltschutz. Für Minderheiten. Und das ist in meiner Gemeinde kein Thema.

Ansatz

Wir erleben gerade, dass die christlichen Werte und die Gesellschaft massiv auseinanderdriften. Trotzdem ist die Begründung der christlichen Ethik kein großes Thema in Gemeinden. Aber mit zunehmendem Alter brauchen Jugendliche gute Begründungen der christlichen Ethik. Das ist anstrengend! Aber wichtig.

Frage

Hast du gute Antworten auf die ethischen Fragen unserer Zeit?

7. Ich wurde unmündig gelassen - mein Glaube wurde nie reif und erwachsen

Falsches Versprechen

»Glaube nur. Glaube einfach. Glaube blind. Widerstehe allem, was nicht in dein Glaubenssystem passt. Und alles wird gut.«


Enttäuschung

Wir haben den Eindruck: dieser Grund ist das zentrale Problem. Wenn Jugendliche keinen Weg gefunden haben, mit ihren Enttäuschungen über Christen umzugehen, keinen Umgang mit Leid gelernt haben, Regeln gefolgt sind, die sie nicht verstanden haben, die statt einem guten Umgang mit der Bibel ein Festhalten am Glaubenssystem erlebt haben, wenig Ahnung über wissenschaftliche Entdeckungen haben und sich an eine Moral geklammert haben, die sie nicht erklären können, bekommen sie den Eindruck: Mein Glaube ist nicht erwachsen geworden. Ich wurde unmündig gelassen.

Ansatz

»11 Und er hat die einen als Apostel gegeben und andere als Propheten. Er gab Evangelisten, Hirten und Lehrer, 12 damit sie die, die Gott geheiligt hat, zum Dienst ausrüsten und so der Leib des Christus aufgebaut wird 13 mit dem Ziel, dass wir alle die Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes erreichen; dass wir zu mündigen Christen heranreifen und in die ganze Fülle hineinwachsen, die Christus in sich trägt. 14 Dann sind wir keine unmündigen Kinder mehr, die sich vom Wind aller möglichen Lehren umtreiben lassen und wie Wellen hin- und hergeworfen werden. Dann fallen wir nicht mehr auf das falsche Spiel von Menschen herein, die andere hinterlistig in die Irre führen.« (Epheser 4)

Die zentrale Aufgabe von uns als Mitarbeitern ist es, Menschen vom Kind zum Erwachsen zu begleiten und dazu beizutragen, dass sie nicht mehr unmündig sind.

Frage

Förderst du die Mündigkeit deiner Kinder und Jugendlichen?