Eine konservativ-progressive Gemeinde 

Wie kann Gemeinde konservativ und gleichzeitig progressiv sein? Anton Weidensdörfer gibt eine Antwort.
Eine konservativ-progressive Gemeinde 

Vielleicht hast du die Überschrift gelesen und gedacht: Geht das überhaupt? Konservativ und progressiv – sind das nicht Gegensätze? Bei beiden Begriffen haben wir alle sofort das Bild einer Gemeinde vor unserem inneren Auge – und je nach unseren Überzeugungen ein gutes oder schlechtes Bauchgefühl dabei. Schnell sind wir dann dabei in Schubladen zu denken: „Konservative Gemeinden sind langweilig und tot“. Oder: „Progressive Gemeinden sind abgeflacht und liberal.“ Und ja, wahrscheinlich haben wir genau das auch schon gesehen und erlebt. Ich will dich herausfordern neu und tiefer über Gemeinde nachzudenken, denn ich bin überzeugt: Wir brauchen konservativ-progressive Gemeinden. 

Am Richtigen festhalten 

Der Duden definiert konservativ mit „am Hergebrachten festhaltend“. An was sollten wir als Christen unbedingt festhalten? Wir finden in der Bibel ein geniales Vorbild: Jesu Umgang mit den religiösen Traditionen seiner Zeit. In der Bergpredigt setzt Jesus sich mit den Lehrern und Traditionen des Judentums im ersten Jahrhundert auseinander. Seine Grundhaltung ist, dass er das Gesetz nicht einfach auflöst sondern sagt, dass kein Punkt und Strich davon vergehen werden (Mt 5,17f). Er erklärt, dass er es erfüllen wird, was er durch sein Leben und Sterben tun wird. Hierzu lohnt es sich einen extra Artikel zu schreiben, aber mir geht es jetzt stärker um Jesu Aussage in Bezug auf die Traditionen seiner Zeit. Denn er beginnt seine folgenden Auslegungen zum Gesetz immer mit „Ihr habt gehört, dass zu den Vorfahren gesagt worden ist.“ (z.B. Mt 5,21). Damit kritisiert Jesus nicht das Alte Testament, sondern die Traditionen und Lehren der Rabbiner. Jesus trennt unauflösliches Wort Gottes von den Auslegungen und Ableitungen der Theologen seiner Zeit. 

Davon sollen wir lernen. Wir müssen uns bewusst sein, dass unser Bild von Gemeinde und wie sie aussehen muss nicht zu 100% aus der Bibel kommt, sondern aus Ableitungen und Auslegungen hervorgeht. Diese Traditionen sind an sich nicht unbedingt falsch – niemand kann ohne Traditionen auskommen. Aber sie sind oft Antworten auf konkrete Fragen einer Zeit. Im 19. Jhd wurden praktische Gemeindefragen, die die Bibel nicht regelt, anders beantwortet, als man es heute tun würde. Wir müssen also darum ringen, dass wir unveränderliches Wort Gottes und einst gute und bewährte Traditionen nicht auf eine Stufe stellen. Wir leben in einer Zeit, in der ein klares Bekenntnis zur Irrtumslosgikeit der Schrift in vielen Evangelikalen Gemeinden aufgeweicht wird. Wir brauchen darum eine konservative Bewegung in dem Sinn, dass wir an der Schrift festhalten. 

Die richtigen Fragen stellen 

Gleichzeitig müssen wir uns der großen Aufgabe stellen Formen und Wege zu finden, wie das unveränderliche Evangelium zu den Menschen im Jahr 2022 kommen kann. Und dabei müssen wir aufpassen, dass unsere Traditionen nicht im Weg stehen, sondern helfen. Ein Vorbild dafür ist der Apostel Paulus. Er lässt z.B. Timotheus beschneiden (Apg 16,3), wegen der Juden. Er geht also auf die Juden ein, obwohl er es so nicht hätte machen müssen. Von Titus lesen wir das er nicht beschnitten wurde (Gal 2,3). Paulus war bereit seine Strategie so anzupassen, dass Menschen sich an Christus stießen und nicht an Dingen, wo die Bibel uns Freiheit gibt. In 1Korinther 9 beschreibt er, wie er sich bemüht sich auf die Lebenswelt der Menschen einzulassen, die er erreichen will und schließt mit dem Satz: „Ich bin allen alles geworden, um unter allen Umständen wenigstens einige zu retten.“ (1Kor 9,22b) Progressiv bedeutet fortschrittlich bzw. sich entwickelnd.

Als Gemeinden müssen wir in dem Sinne progressiv sein, dass wir immer wieder neu Fragen: dienen unsere Formen noch dazu, dass Menschen das Evangelium hören? 

Den richtigen Schmerz spüren 

Oft höre ich an dieser Stelle den Einwand, dass Gemeinde für Christen da ist und eine Ausrichtung auf Nichtchristen nicht gut ist. Aber ist diese Trennung überhaupt richtig? Der Auftrag von Gemeinde ist es Jünger Jesu zu machen. Es gibt dabei einen Schritt für jeden. Ein Nichtchrist muss Jesus kennenlernen, umkehren und zum Glauben finden. Ein Christ muss Schritte in der Nachfolge gehen. Die Zielgruppe sind Menschen, die alle das Evangelium als Wahrheit und Kraft in ihrem Leben brauchen. Darum ist Gemeinde eine Familie für Christen – Ihre Veranstaltungen müssen aber auch Anlaufpunkt für Nichtchristen sein, damit Sie irgendwann zu dieser Familie gehören. Und das geht nur, wenn man einen Fokus auf diese Menschen legt. Und sind wir doch mal ehrlich: Wir gewinnen nicht nur viel zu wenige Nichtchristen – wir verlieren auch zu viele Christen, oder? Gemeinden verlieren ihre junge Generation oder junge Familien. Sie gehen in andere Gemeinden, die besser zu ihnen passen. Ich möchte das jetzt gar nicht pauschal rechtfertigen, es gibt eine Kultur der Gemeindesuche die viel zu stark auf die eigenen Befindlichkeiten ausgerichtet ist. Aber es gibt eben auch eine Kultur der Gemeindeführung oder besser Gemeinde-Bewahrung, die viel zu stark auf die eigenen Befindlichkeiten ausgerichtet ist. Meine Frage an dich als Leiter ist: Wo spürst du Schmerz? Da wo dein Geschmack nicht bedient wird? Da wo Dinge, die dir lieb sind, nicht mehr von allen geschätzt werden? Oder spürst du ihn da, wo Gemeinden schrumpfen, sich in Streit zersetzen und keine Relevanz in ihrem nichtchristlichen Umfeld haben? Jesus hatte Bauchschmerzen – aber er hatte sie da, wo er die verlorenen Menschen seiner Zeit sah (Matthäus 9,36). Ich bin überzeugt, dass Gemeinde den Auftrag hat Menschen auf Jesus Christus auszurichten. Christen in der Anbetung, Lehre und Jüngerschaft. Aber auch Nichtchristen durch das Evangelium, dass in Worten, Taten und Gemeinschaft zum Ausdruck kommt. Darum sollten wir unseren Kindern, Jugendlichen, Freunden, Nachbarn, ... den Liebesdienst erweisen und uns fragen, wie durch unsere Gemeinde die gute Botschaft so zum Ausdruck kommt, dass es zu ihrer Lebenswirklichkeit passt. 

Das richtige Ziel 

Was ich gerade beschreibe ist ein Prozess. Und es ist kein einfacher, sondern manchmal ein schmerzhafter Weg. Er bedeutet Buße, Umkehr und Verlust von Liebgewordenem. Aber er bedeutet auch Freude, gemeinsame Ausrichtung und Zukunft. Es gibt keine einfachen Antworten auf die komplexen Fragen von Gemeinde in unserer Zeit. Aber die Arbeit und Mühe ist es Wert. Es reicht auch nicht einfach Formen zu ändern oder zu kopieren. Die entscheidende Frage dabei: Was ist das Ziel unserer Gemeindearbeit? Hast du schonmal darüber nachgedacht? Oder verfolgst du unbewusst einfach das Ziel etwas zu imitieren? Z.B. Gemeinde aus der „guten alten Zeit“ oder eine Gemeinde, die du von Youtube „kennst“? Jesus selbst sagt uns, was der Auftrag an seiner Jünger ist: „Darum geht zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngern. Dabei sollt ihr sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes taufen und sie belehren, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin jeden Tag bei euch bis zum Ende der Zeit!“ (Matthäus 28,19f.). Jesus macht klar das Menschen zu Jüngern werden sollen – zu Nachfolgern Jesu. Sie sollen wachsen, Schritte gehen und verändert leben. Doch dafür ist es nötig, dass wir hingehen. Das kann geografisch passieren. Aber manchmal ist die größere Distanz in unserem Herzen. Darum könnte dein nächster Schritt ein ehrliches Gebet sein: 

„Herr, bitte zeige mir wo meine Liebe zu Formen größer ist, als die Liebe zu deinen Kindern und der Menschen, für die du dein Leben geopfert hast. Bitte hilf mir eng und treu an deinem Wort zu sein, mich ihm unterzuordnen und aus Liebe Wege zu finden, wie Gemeinde heute Menschen helfen kann, es zu hören und zu glauben. Vergib mir meinen Hochmut gegenüber denen, die anders denken als ich und gib mir ein weiches Herz. Bitte segne meine Gemeinde und schenke, dass ich ein Segen und kein Hindernis für sie bin. Es ist deine Braut, deine Schatz, dein Eigentum – lass mich ein treuer Verwalter sein. Danke für deine Gnade mit mir und die Gewissheit, dass du deine Gemeinde bauen wirst. Amen.“ 

Praktische Hilfe 

Eine praktische Hilfe um die Ausrichtung deiner Gemeindearbeit zu prüfen ist das Modell der drei Perspektiven nach John M. Frame (aus dem Handbuch für urbane Gemeindegründung (T. Keller, J.A. Thompson) ). An der oberen Spitze steht die Bibel: Schreibt hier auf, welche biblischen Aufträge Gemeinde hat. Links unten ist euer Umfeld: Schreibt hier auf, welche sozialen und geistlichen Nöte, kulturelle Besonderheiten und Interessen euer Umfeld hat. An der rechten Spitze steht Gemeinde: Schreibt hier auf, welche Stärken und Gaben eure Gemeinde hat. Die Schnittmenge aus Auftrag, Not und Gabe kann euch helfen zu prüfen, ob eure jetzige Arbeit zu eurem Umfeld und eurem Auftrag passt. Außerdem hilft es, euch neu auszurichten.